Gelsenkirchen. In der Bauerschaft Tungerloh-Capellen kamen zwischen August 1943 und Februar ‘45 Hunderte Gelsenkirchener Kinder zur Welt, weil die Vestische Frauenklinik in Erle geschlossen war. Ein Geschichtskapitel, das bisher offensichtlich weitgehend unbekannt war.
Wenn ein Kind geboren wird, sind drei Dinge ganz schnell amtlich: Der Name des neuen Erdenbürgers und seiner Eltern – und sein Geburtsort. Der muss nicht zwingend die Heimatstadt des Neugeborenen sein. Wenn Mütter sich beispielsweise entschließen, ein Krankenhaus ihres Vertrauens in einer Nachbarstadt aufzusuchen, ist diese dann eben der Geburtsort.
In der Geburtsurkunde vieler Gelsenkirchener, die ab Mitte August 2013 (und später) ihren 70. Geburtstag feiern, ist als Geburtsort der für „Ruhrpötter“ doch ungewöhnlich klingende Name Tungerloh-Capellen eingetragen. „Wo ist das denn?“ haben sich sicher schon viele gefragt.
Über 800 Kinder im Schutzengelhaus geboren
Nun, Tungerloh-Capellen ist eine Bauerschaft im münsterländischen Gescher. Und Sitz der Bischöflichen Stiftung Haus Hall, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderungen. Hier, im alten Schutzengelhaus (heute Gartenhaus), wurden zwischen dem 16. August 1943 und Februar 1945 über 800 Gelsenkirchener Kinder geboren.
Warum, das beantwortet die Chronik von Haus Hall. „Militär und Zivilbehörden waren schon seit langer Zeit bemüht, unser Haus für ihre Zwecke zu gewinnen“, heißt es in einer Eintragung aus dem Jahr 1943. Die einen suchten Raum zur Einrichtung eines Lazaretts, die anderen zur Auslagerung eines Krankenhauses und einer Entbindungsstation für den Kreis Emscher-Lippe. „Wegen der feindlichen Fliegerangriffe im Industriegebiet wolle man den Patienten ein möglichst ruhiges Heim verschaffen“. Bei erwähnter Entbindungsstation handelte es sich um die Vestische Frauenklinik an der Cranger Straße.
Jeden Sonntag und Mittwoch wurde getauft
Das provisorische Entbindungsheim für 85 Frauen wurde im Schutzengelhaus, das Krankenhaus mit 100 Betten für Frauen und 50 für Männer in den übrigen Abteilungen untergebracht und ab Anfang August belegt. Am 16. August kamen die ersten schwangeren Gelsenkirchenerinnen. Und, so steht’s in der Chronik: „Am Sonntag, dem 22. August wurde in unserer Kapelle das erste Kind getauft. Am folgenden Sonntag waren drei katholische und drei evangelische Taufen. Von da an ging alles wie am laufenden Band. Jeden Sonntag und jeden Mittwoch wurde getauft. Nach der Geburt des Kindes blieben die Mütter noch 10 Tage hier. Vor ihrer Abreise holten sich die Mütter nach der hl. Messe den Muttersegen.“
1943 wurden im Entbindungsheim 216 Gelsenkirchener Kinder geboren, 1944 waren es 616. Im Februar 1945 wurde das Entbindungsheim nach Lüdinghausen verlegt. Haus Hall wurde als Lazarett gebraucht.
Ein weitgehend unbekanntes Kapitel
In der Chronik der Elisabeth-Krankenhaus GmbH in Erle finden sich keine Hinweise auf die Schließung des Krankenhauses in den letzten beiden Kriegsjahren. Also Fehlanzeige. Auch Prof. Dr. Stefan Goch, der Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, muss passen. „Was die Chronik hergibt“, sagt er: „Es gab einen Blindgänger am Elisabeth-Krankenhaus.“ Über die Krankenhäuser in kirchlicher Trägerschaft, die während des Zweiten Weltkriegs Abteilungen geschlossen und z. B. die Geburtshilfe in bombensicherere Gebiete verlegt haben, „haben wir leider keine geordneten Unterlagen“. Dass dieses Thema in der Zeit des Nationalsozialismus’ nicht öffentlich gemacht wurde wie etwa die Kinderlandverschickung, könnte darin begründet sein: „Das wäre ein Zeichen von Angst gewesen.“ Auf Bitten der WAZ forscht nun Archivar Dr. Christoph Moß vom Bistum Essen.
Auch WAZ-Leser können helfen: Werden Sie bald 70? Ist Ihr Geburtsort Tungerloh-Capellen? Haben Ihre Eltern erzählt, warum Sie dort zu Welt kamen? Oder haben Sie sich den Ort schon einmal persönlich angeschaut? Rufen Sie uns doch einfach an und erzählen Ihre Geschichte: 170 94-30. Email: redaktion.gelsenkirchen@waz.de