Gelsenkirchen.

„Huch“, ruft Marie und greift blitzschnell ans schützende Geländer. Fast wären die drei Michelin-Männchen auf dem Gerüst umgeweht worden – so heftig waren die Böen. Der Wind verfing sich in den viel zu großen weißen Maler-Overalls von Danika (11), Jolina (11) und Marie (10). „Die Schutzanzüge halten aber dafür mollig warm“, freut sich Danika und grinst breit.

Was für ein Glück, denn sonst wären ihre Hände beim Bemalen der Plakatwand wohl blau angelaufen und ganz steif vor Kälte geworden. Die Pinsel schwingenden Mädchen hatten schließlich eine wichtige Mission zu erfüllen: ihre Interpretation von Erich-Kästners „Das fliegende Klassenzimmer“ als Motiv auf dreieinhalb mal zweieinhalb Metern zu verewigen. Ein kunterbuntes Statement dafür, dass auch Kinder sich dem Thema „Machtergreifung der Nazis vor 80 Jahren“ nähern können. Altersgerecht, aber nicht minder nachhaltig. Zu sehen im Fersenbruch, Ecke Holtgrawenstraße.

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Kinder denken einfach und direkt

Akribisch tragen Danika, Jolina und Marie die Farben auf: Schnee bedeckt felsgraue Gipfel, ein brauner Düsenjet zerschneidet pralle Wolkenbäusche in tiefem Blau und Kinder blicken lachend durch die Kabinenfenster. Ganz vorn thront ein Pilot mit schwarzem Rauschebart auf seinem Sitz, das Steuer fest mit den Händen umklammert. „Schnell jetzt, der Lack“, ruft Jolina den Betreuern Jana Junker und Jens Stäbel zu. Der Kinderbeauftragte des Bezirks Mitte und die Gruppenleiterin des Jugendzentrum Kanzlerstraße (Villa) sprühen, was das Zeug hält, Klarlack, damit die eiskalten Regengüsse das hübsche Werk nicht in Sekunden wegspülen.

Seit den Osterferien beschäftigen sich die zehn Kinder der Villa mit Kästners Werk und seiner Botschaft: Zivilcourage, Freundschaft und Familie. Die wenigsten Kinder kannten den Roman schon. Abwechselnd wurde also vor- und gelesen, der alte Schwarz-Weiß-Film von 1954 geschaut und auch die neueste Fassung von 2003. Oder Malereien betrachtet, die das braune Schreckensregime als entartete Kunst verbot. „Merkwürdig, so eine Schule nur mit Jungs!“, „Wieso, das Bild ist doch wunderschön?“ und „Dann wäre ich mit meinen ausländischen Wurzeln auch nicht mehr da!“ – solche und ähnliche Kommentare sind die Reaktionen auf Buch- und Filmmaterial.

"Augen auf - Misch dich ein"

Eine gute Basis für die weitere Arbeit des Demokratieprojektes „Augen auf – Misch Dich ein!“. „Bücherverbrennung, Verfolgung, Krieg – wir konnten kaum glauben, dass es so was mal hier gab“, sagt Marie und runzelt empört ihre Stirn mit den blauen Farbtupfern darauf, Beleg für viel Eifer und Fleiß. Danika und Jolina, die neben ihr auf dem Gerüst stehen, nicken zustimmend. „So etwas geht mal gar nicht“, murmeln sie, immer noch ganz vertieft in die letzten Striche und Farbmuster.

Dann ist’s geschafft, das kunterbunte Motiv fertig. Und die Mission erfüllt – doppelt sogar.