Gelsenkirchen. Am Vorabend des 1. Mai und am Feiertag stand beim soziokulturellen Projekt Steinbruch Demokratie das Thema Leben mit Hartz IV im Mittelpunkt. Es gab Diskussionen, Lesung und Blumen mit Botschaft am Bauzaun des Hans-Sachs-Hauses.

Am „Tag der Arbeit“ ist Arbeitslosigkeit das bestimmende Thema im Steinbruch Demokratie. „Mit wenig auskommen, Second Hand statt Markenklamotten, Lebensmittel von der Tafel und am Besten nicht denken, schon gar nicht an die Zukunft der eigenen Kinder ...“ Das sind Gedanken von Birgit Stieler. Sie hat sie aufgeschrieben, liest in der warmen Mai-Sonne vor.

Die 53-Jährige allein erziehende Mutter von vier Kindern im Alter zwischen zehn und 19 Jahren lebt von Hartz IV. „Relativ arm“ heißt das Buch der Duisburger Autorin, in dem sie das Leben in der Bedarfsgemeinschaft schildert. Ein kleiner Kreis engagierter Zuhörer sitzt hinter dem Bauzaun.

Reibekuchen mit Apfelmus

Birgit Stieler hat ihre Erfahrungen in Tagebuchform verfasst. Beispiel 19. Januar: Ihr Junge müsste dringend zum Frisör. Da kommt nur der türkische Salon in Frage, der ist günstiger. Sie selbst hat einen elenden Husten, sollte besser zum Arzt. „Aber es wird schon so gehen und ich kann mir zehn Euro sparen.“ Zwei Tage zuvor konnte sie wieder einmal Zeitungen austragen. Da gab es mittags Reibekuchen mit Apfelmus. Sie könne gut mit Geld umgehen und früher habe es immer bis zum Monatsende gereicht. „Da musste ich nichts auf den nächsten Monat verschieben.“

Kein Geld für den Frisör

Vorbei, seit die Rechtsanwalt-Fachangestellte ihren Job aufgeben musste. 25 Jahre Vollzeitstelle, dann irgendwann Hartz IV ... Wie weh es tut, wenn ihre Mädchen in der OGS nur kaltes Essen bekommen, weil zehn Euro für die warme Mahlzeit nicht reichen, berichtet sie. Anmelden musste sie die Kinder dazu – „damit ich mich auf einen Ganztagsjob bewerben kann“. Birgit Stieler erzählt in ihrem Buch auch über das Bewerbungstraining, an dem sie teilnehmen musste. Dem Trainer habe ihr Passbild nicht gefallen, sie sollte ein neues machen lassen. „Aber ich hatte kein Geld für den Frisör.“

Seit Birgit Stieler aus ihrem persönlichen Tief heraus ist, tut sie wieder das, was ihr am meisten Spaß macht: Schreiben. Und so ganz nebenbei transportiert sie damit Botschaften an andere Hartz IV-Empfänger. Eine lautet: „Ich habe eine Allergie gegen Ungerechtigkeit.“ Eine Frau beschreibt in der Diskussion, wie schnell man beim Arbeitsplatzverlust unten ankommen kann. „Du hast genau ein Jahr Zeit, gegen den Strom zu schwimmen und einen Job zu suchen. Dann ist Ende der Fahnenstange.“

Für Steinbruch-Initiator Paul Baumann ist es dringend an der Zeit, „dass sich von unten etwas bewegt. Aus dem Weinen heraus muss sich etwas entwickeln“.

„Über mich wird entschieden“

Am Vorabend des 1. Mai hatte das ev. Industrie- und Sozialpfarramt in die Altstadtkirche eingeladen, wo das Thema Hartz IV auf sehr unterschiedliche Weise ebenfalls das zentrale Thema war. Pfarrer Dieter Heisig moderierte die abschließende, durchaus kontroverse Diskussion der Besucher dieser „Steinbruch“-Veranstaltung. In der eine Teilnehmerin betonte: „Demokratie heißt für mich: mit entscheiden. Aber das kann ich als Hartz IV-Empfängerin nicht; über mich wird entschieden.“ Der klaren Ansage folgte die Forderung nach mehr Öffentlichkeitsarbeit. „Wir müssen näher an die Leute ran kommen und nicht nur immer meckern. Und wenn wir nur eine Person erreichen, ist das gut.“

Auch die Frage, was Steinbruch Demokratie mit Hartz IV überhaupt zu tun hat, wurde in den Raum gestellt: „Was wollen wir damit anfangen? Für mich ist SGB II fernab von demokratischen Spielräumen und vom Mitreden.“ Dennoch ging es anschließend geschlossen zum Bauzaun vor dem Hans-Sachs-Haus, als „erfahrbaren Ort der Demokratie“, wie Dieter Heisig sagte. Er hatte Blumen mitgebracht. An jedem Stiel mit einem Gedicht von Peter Härtling ausgestattet. In einer Zeile heißt es da: „... und mit Lächeln zahlte, statt mit Geld ...“