Gelsenkirchen. Um sie vor möglichen Luftangriffen zu schützen, wurden ab Oktober 1940 Schulkinder sowie Mütter mit Kleinkindern aus bedrohten deutschen Städten längerfristig in weniger gefährdeten Regionen untergebracht. Heute vor genau 70 Jahren stieg Norbert Aleweld in den Zug gen Steiermark.
Wie er das verarbeitet hat? Dr. Norbert Aleweld spricht über die Zeit und die Menschen, die seine Entwicklung als Pubertierender geprägt haben, er spricht über Erinnerungen, über seine damaligen Empfindungen, wenn er mal wieder Druck bekam.
Und kommt zu der Erkenntnis: „Das waren Scheusale.“ Vielleicht, sinniert der heute 81-jährige Architekt, Kunsthistoriker und Pädagoge, sei das ja so etwas wie ein Verarbeiten: Wenn man darüber spricht. Das will Norbert Aleweld, „weil es mir wichtig ist, diese Zeit fest zu halten“.
Als sei es erst gestern passiert ...
Die Bilder in seinem Kopf sind scharf umrissen, als sei alles erst gestern passiert … der Aufenthalt in Mariazell in der Steiermark. Kinderlandverschickung (KLV). Von den Nazi-Lehrern an der Knaben-Mittelschule in Bulmke, die in der später zerstörten Hohenzollernschule untergebracht war, richtig schmackhaft gemacht.
Erst sagten die Lehrer damals, die Reise gehe nach Prag. Norbert Aleweld war in der zweiten Klasse (die heutige Jahrgangsstufe 6), als er sich meldete. Er wollte mit. „Die Zahl der nächtlichen Alarme war groß. Ich kam oft völlig müde zur Schule.“ Da war die Aussicht auf Ruhe schon etwas Gutes.
Prügel, nur weil er in die Kirche wollte
An die Bulmker Mittelschule denkt Aleweld heute noch. Oft mit Schaudern. Prügel habe es gegeben, ganz besonders im Sportunterricht. „Der lag in den Händen von einem SA-Lehrer“, erzählt der 81-Jährige. „Wir hatten so viel Angst, dass wir die sportlichen Ziele immer erreicht haben.“
Angst und Wut regierten auch während der KLV-Zeit ... Dort hieß es: Zähne zusammenbeißen.
Elf Jahre alt war der Schalker, als er mit 271 weiteren Jungen aus den Klassen 1 bis 3 am 12. April 1943 in den Zug stieg. Freiwillig, seine Eltern ließen ihn ziehen. „Frag, ob ihr sonntags in die Kirche gehen dürft“, haben die Katholiken dem jüngsten ihrer drei Kinder noch ans Herz gelegt. Hat er auch gemacht. „Es wurde im Lager öffentlich gefragt, wer zur Kirche will. Ich habe mich gemeldet – und wurde zum Außenseiter.“ Schlimmer. Ältere Mitschüler lauerten ihm später auf und verprügelten den Jungen, der immer der Kleinste war. Die Betreuer schauten weg ...
Schlechte Versorgung und einfache Unterkunft
Zurück zum Anfang: Zwei Tage waren die 272 Jungen aus Gelsenkirchen unterwegs. „In Bebra gab es Erbsensuppe“, weiß Aleweld noch. Brote hatten sie satt dabei. Daran sollte er später wehmütig denken. Denn: „Die Versorgung in Mariazell war schlecht. Wir hatten immer Hunger.“ Die Not ein wenig lindern halfen die Eltern im fernen Gelsenkirchen. Sie schickten den Söhnen Brotmarken. „Für eine Marke gab es 50 Gramm Brot oder ein Brötchen. Die Marke war drei Pfennige wert.“
Im KLV-Lager waren die Schüler nach seinen Worten kaserniert, durften das Gelände nicht verlassen. Mit einer Ausnahme: „Unser bester Dauerläufer musste jeden Tag zur Post rennen. Dabei hat er dann unsere Marken eingetauscht.“ Da muss Norbert Aleweld sogar schmunzeln. In einfachen Hotels waren die Kinder untergebracht. „Im KLV-Lager war es Pflicht, die Uniform der Hitlerjugend zu tragen“, berichtet Aleweld.
Mutters Besuch in Mariazell war ein Lichtblick
Es sei paramilitärisch zugegangen. Die Gruppen hatten einen Lagerführer; über allem stand der Lagermannschaftsführer. „Unser Lagerführer hat sich nicht um uns gekümmert.“ Vom Lagermannschaftsführer sei man regelrecht schikaniert worden, berichtet Aleweld. Auch er, nachdem er einmal den rechten Arm nicht zum braunen Gruß strecken konnte – weil er den Koffer seiner Mutter trug ...
Am 27. Mai 1943 fuhren weitere Klassen der Bulmker Knabenmittelschule in ein KLV-Lager. Das lag in Habichtsbeck in Westpreußen, erzählt Norbert Aleweld. Mit seiner Gruppe fuhren am 12. April sechs Mädchenklassen aus Gelsenkirchen ebenfalls nach Mariazell.
Bis Oktober 1943 blieb der Junge in der Steiermark. Ein Lichtblick war der Besuch seiner Mutter. Dass er ihren Koffer zum Bahnhof trug – was ihn am „Hitlergruß“ hinderte – hatte für den Jungen ein Nachspiel. „Ich wurde dafür geschliffen“. Abhang runter, Abhang rauf, auch hüpfend, bis zur totalen Erschöpfung und blutigen Wunden wegen Dornenbüschen und Brennnesseln. Und wieder: Zähne zusammenbeißen und durch. „Die Wut wurde uns regelrecht aus dem Leib getrieben“, konstatiert der heutige Senior nachdenklich.
Elternhaus im Bombenhagel
Aus dem Lager ausziehen durfte nur, wer einen sicheren Aufenthaltsort nachweisen konnte. Alewelds Eltern kümmerten sich, kamen über einen katholischen Geistlichen aus Scholven an eine Unterkunft bei einem Bauern in Gescher. Nach kurzem Aufenthalt im Münsterland kehrte Norbert Aleweld Ende Oktober 1943 zurück in sein Elternhaus an der Schlosserstraße 6, dem Wohnhaus der Familie Seppelfricke, Alewelds Großeltern mütterlicherseits.
„Ich habe hier den gesamten Luftkrieg ab 6. November bis zum Ende mit bekommen“, berichtet der Wahl-Iserlohner. Immer montags habe es Angriffe gegeben. Auch sein Elternhaus wurde teilweise zerstört, als am 5. und 19. März Bombenhagel nieder ging.
Keine Zeit, das Erlebte zu verarbeiten
Nach Kriegsende hatte Norbert Aleweld keine Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. Es war die Zeit des Reparierens, des Wiederaufbaus. „Eine harte Zeit“, beschreibt der 81-jährige Vater zweier Kinder. Seine Frau Lieselotte, auch Gelsenkirchenerin, war im Zuge der Evakuierungsmaßnahmen mit ihrer Mutter nach Steinhude gekommen.
Aleweld und ehemalige „KLV“ler treffen sich regelmäßig einmal im Jahr. Vielleicht ist auch das eine Gelegenheit, die Erlebnisse zu verarbeiten.
Dem ISG fehlt Bildmaterial über das Kapitel Kinderlangverschickung
Dem Institut für Stadtgeschichte (ISG) liegen Berichte von Zeitzeugen über Kinderlandverschickungen vor, die von ehemaligen Schülern der heutigen Gesamtschule Buer stammen. Mangelware sind indes Bilder aus dieser Zeit. Prof. Dr. Stefan Goch ermuntert Gelsenkirchener, dem ISG Bilder aus den privaten Fotoalben zur Verfügung zu stellen (Munscheidstraße 14, 169-8550).
Detailinformationen über Teilnehmerzahlen bei Kinderlandverschickungen und Evakuierungsmaßnahmen von Kindern und Müttern liegen den Stadthistorikern nicht vor. Wohl aber hat das ISG Einwohnerstatistiken, die für sich sprechen. Vor Kriegsausbruch hatte Gelsenkirchen demnach 317 568 Einwohner; im Oktober 1944 waren es nur noch 217 078. Die Zahl aus dem Kriegsjahr ‘44 stützt sich auf die ausgegebenen Lebensmittelkarten. Im April 1945 wurden so 150 034 Menschen in GE erfasst. Für Oktober 1946 weist die Statistik bereits wieder 266 114 Einwohner aus.