Gelsenkirchen-Altstadt. Eine Ära endet: Die Gelsenkirchene Buchhandlung Junius schließt nach 86 Jahren. Was Inhaberin Sabine Piechaczek Spektakuläres erlebte.

Wenn Sabine Piechaczek am Samstag, 15. Juni, um 14 Uhr den letzten Kunden, die letzte Kundin verabschiedet hat und die Ladentür abschließt, wird sie wohl erstmal tief durchatmen: Der letzte Öffnungstag ihrer Buchhandlung Junius, er ist dann geschafft. Für sie enden fast 46 Berufsjahre - und für Gelsenkirchen eine Ära. Denn in dem Geschäft wurden nie nur Bücher verkauft. Es galt auch als Treffpunkt und Veranstaltsort für Literatur- und Kunst-Interessierte, das Impulse in der Kulturszene setzte. Einige waren gar so spektakulär, dass gleich mehrfach die Polizei anrücken musste.

Wer Sabine Piechaczek in den Tagen vor der Schließung nach ihrem Befinden fragt, erlebt sie gelassen und gefasst. „Ich bin kein sentimentaler Typ. Es war eine schöne Zeit, aber die ist jetzt zu Ende, und nun kommt etwas Neues. Ich bin froh, wenn ich die teils belastende Verantwortung abgeben und mehr Zeit mit meinem Mann Wolfgang verbringen kann.“ Im Freundes- und Bekanntenkreis erlebe sie derzeit immer wieder, dass das Leben endlich ist, „und das kann schneller passieren als erwartet“, sagt die 65-Jährige.

Gelsenkirchener Lothar Junius übernahm die Buchhandlung 1960

In den Räumen an der Sparkassenstraße stehen schon seit Wochen alle Zeichen auf Abschied: An den Wänden hängen alte Zeitungsausschnitte und Veranstaltungsplakate, Schwarz-Weiß-Fotos nehmen die Kundschaft mit auf eine spannende Zeitreise: Sie begann 1938, als Josef Kirschbaum und Wilhelm Kottmann an der Von-Oven-Straße ihre „Neue Buchhandlung Kirschbaum und Kottmann“ gründeten.

Nach der Trennung der Partner im Krieg eröffnete Kottmann ein Geschäft in Buer, während Kirschbaum die Buchhandlung in der Altstadt unter seinem Namen zunächst am alten Standort, dann nach dem Krieg 1945 am Rundhöfchen fortführte. 1960 übernahm Buchhändler Lothar Junius die Firma und zog zur Sparkassenstraße 4 um, wo sie seither Generationen von Literatur-Interessierten mit Lesefutter versorgt.

Grün und schwarz: Gelsenkirchener Buchhandlung sollte nach Umbau 1979 an einen Bücher-Garten erinnern

Moosgrüner Boden, schwarze Decke, sachlich-reduzierte Einrichtung: Nach der Umgestaltung 1979 sollte die Gelsenkirchener Buchhandlung Junius den Eindruck eines Bücher-Gartens erwecken.
Moosgrüner Boden, schwarze Decke, sachlich-reduzierte Einrichtung: Nach der Umgestaltung 1979 sollte die Gelsenkirchener Buchhandlung Junius den Eindruck eines Bücher-Gartens erwecken. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Sabine Piechaczek, die dort 1978 ihre Ausbildung begann, erinnert sich noch gut, wie die Räume nach dem Umbau 1979 samt Geschäftserweiterung von 70 auf 120 Quadratmeter aussahen: „Der Boden war moosgrün, die Decke schwarz, um die Assoziation eines Gartens mit Büchern zu erwecken. Die Einrichtung war sachlich und reduziert. Mit den Jahren wirkte das jedoch etwas duster und muffig, so dass ich die Räume nach der alleinigen Übernahme des Geschäfts 2016 umgestaltet und weiß gestrichen habe.“

Ihr langjähriger Kollege Peter Wöhrl, der 1998 mit ihr Teilhaber der nun in „Buchhandlung Lothar Junius OHG“ umbenannten Firma geworden war, hatte 2012 seine Teilhaberschaft aufgegeben. Junius war 2006 aus der OHG ausgeschieden und 2007 verstorben. Was jedoch all die Jahrzehnte Anliegen aller Mitarbeitenden blieb: Leserinnen und Leser individuell und persönlich mit Büchern zu versorgen und, wenn möglich, zu begeistern.

Gelsenkirchener Buchhändlerin betont: „Wir schreiben schwarze Zahlen“

Namensgeber Lothar Junius hatte die Gelsenkirchener Buchhandlung 1960 von Mitbegründer Josef Kirschbaum übernommen. 2006 schied er aus der Offenen Handelsgesellschaft (OHG) aus, deren Teilhaber Sabine Piechaczek und Peter Wöhrl 1998 geworden waren. Junius starb 2007 im Alter von 81 Jahren.
Namensgeber Lothar Junius hatte die Gelsenkirchener Buchhandlung 1960 von Mitbegründer Josef Kirschbaum übernommen. 2006 schied er aus der Offenen Handelsgesellschaft (OHG) aus, deren Teilhaber Sabine Piechaczek und Peter Wöhrl 1998 geworden waren. Junius starb 2007 im Alter von 81 Jahren. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Dass dies wohl gelungen sein muss, darauf deutet die Tatsache hin, dass Junius etliche andere Buchhandlungen rund um die Bahnhofstraße überlebt hat: Fränzi Wegener, Matthias, Brockmeier, Minerva, Montanus, Bertelsmann Buchclub - sie alle und noch mehr Literatur-Geschäfte haben längst aufgegeben. Inhaberin Piechaczek sagt ausdrücklich: „Wenn wir jetzt schließen, gehen wir nicht in Konkurs. Wir schreiben schwarze Zahlen.“

Dazu mag nicht nur der enge Kontakt zu den vielen Stammkunden beigetragen haben, deren Vorlieben die Beschäftigten seit vielen Jahren kennen. „Die coronabedingte Vollschließung etwa überstand unser Geschäft dank der lese- und kauffreudigen Kundschaft und unseres besonderen Einsatzes ohne Kurzarbeit und finanzielle Unterstützung“, berichtet Piechaczek stolz und dankbar für die Treue der Kundschaft.

Gelsenkirchener Kulturschaffende lagen Buchhandlung Junius immer am Herzen

Die Gelsenkirchener Buchhandlung Junius an der Sparkassenstraße heute kurz vor ihrer Schließung am 15. Juni: Sie ist seit Jahrzehnten als feste Adresse für Buch- und Kulturliebhaber etabliert.
Die Gelsenkirchener Buchhandlung Junius an der Sparkassenstraße heute kurz vor ihrer Schließung am 15. Juni: Sie ist seit Jahrzehnten als feste Adresse für Buch- und Kulturliebhaber etabliert. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Auch mit der intensiven Veranstaltungs- und Öffentlichkeitsarbeit erarbeitete sich Junius einen Ruf als Kultur-Institution über die Stadtgrenzen hinaus. Anfangs zweimal, zuletzt bis zu zwölfmal im Jahr veranstaltete man Buchpremieren, Lesungen, Ausstellungen und Vortragsabende, die in der lokalen Presse besprochen wurden und so zum Stadtgespräch avancierten.

Ob die Grafiker Many Szejstecki und Herbert Daniel, der Tänzer Rolf Gildenast oder die Literaten Michael Klaus, Inge Meyer-Dietrich oder Herbert Knorr: Heimische Kunstschaffende lagen den Inhabern immer besonders am Herzen. Aber auch bundesweit bekannte Akteurinnen und Akteure waren zu Gast - und sorgten für ordentlich Rummel.

Welcher Bundespolitiker bei einer Lesung besonders unnahbar und arrogant wirkte

Islamkritikerin Serap Cileli etwa konnte nur unter Polizeischutz lesen, und auch die Auftritte von Bundes-Finanzminister Alex Möller (1979) und SPD-Politiker Hans-Jürgen Wischnewki (1989) waren von Einsatzkräften begleitet, die zuvor jeden Winkel im Haus nach Bomben abgesucht hatten. „Sowohl Möller als auch Wischnewski waren allen sehr zugewandt und liebenswürdig. Im krassen Gegensatz dazu stand der Besuch des Ministerpräsidenten Heinz Kühn, der sehr unnahbar und arrogant wirkte.“

Dass sie in ihrer Buchhandlung auch junge Autoren begrüßen konnte, die später eine große Karriere machten, freut die 65-Jährige besonders. Der aus Gelsenkirchen stammende Klaus-Peter Wolf etwa legte als Schüler seine auf Schreibmaschine abgetippten und kopierten Heftchen mit Jugend-Geschichten neben der Kasse aus. Mittlerweile füllt er mit den Lesungen aus seinen Ostfriesen-Krimis das Musiktheater und die Heilig-Kreuz-Kirche.

Gelsenkirchener Buchhändlerin brachte es zur Nebenfigur in mehreren Ostfriesen-Krimis

Seine Förderin von einst hat es derweil als Buchhändlerin Sabine Piechaczek zur Nebenfigur in drei seiner Romane gebracht. „In einem Buch hält mir ein Verbrecher ein Messer an den Hals, in einem anderen erkläre ich jemandem, wie eine digitale Kamera funktioniert. Da ist aber die Fantasie mit Klaus-Peter Wolf durchgegangen!“

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Auch unabhängig von Schriftsteller-Karrieren hat die in der Feldmark geborene Bueranerin viel Wandel in der Literaturszene erlebt. „Als ich anfing, galten Krimis fast als Schund. Heute machen sie mindestens die Hälfte unseres verkauften Sortiments aus und jeder weiß, dass es triviale, aber auch sehr anspruchsvolle Kriminalromane gibt.“ Die Welle der historischen Frauenromane, sie ebbt nach ihrem Eindruck gerade wieder ab; die der Fantasy-Romane für junge Leserinnen halte aber nach wie vor an.

Gelsenkirchener Inhaberin wechselt als Beraterin in andere Buchhandlung

Was sie selbst angeht, so will Sabine Piechaczek auch in Zukunft für Bücher werben, dann freilich als Teilzeit-Beraterin in der Buchhandlung Kottmann am Heinrich-König-Platz. Mitarbeiterin Bettina Edeler wird dort ebenfalls arbeiten, während Ute Deelmann an den Kottmann-Standort Buer wechselt. Wie berichtet, will die bisherige Filialleiterin Christina Njehu das Geschäft in der Altstadt mit Hilfe einer NRW-Förderung übernehmen. Dort können auch alte Junius-Gutscheine eingelöst werden.

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Dort kann Piechaczek dann (nicht nur ihren alten) Stammkunden weiter ihre bewährten Lese-Tipps geben und ihren gut trainierten Literatur-Spürsinn unter Beweis stellen. Wer bei ihr „Die Schwammtaucher“ wünscht, bekommt Rosamunde Pilchers „Muschelsucher“; und sie petzt auch nicht, wenn jemand „Die Schlampe im Wolfspelz“ ordert - aber „Die Schlange im Wolfspelz“ von Klaus-Peter Wolf meint.