Gelsenkirchen. Abschied und Neubeginn in der Gelsenkirchener Literaturhandel-Szene: Wieso sich Kunden umorientieren müssen. Was Neues auf sie wartet.

Sie gilt als Institution im Gelsenkirchener Kulturbetrieb: Seit Jahrzehnten ist die Buchhandlung Junius lokaler Literatur-Versorger und Kultur-Vermittler zugleich mit ihren vielen Lesungen, Ausstellungen und Vortragsabenden. Die Ansiedlung der Mayerschen an der Bahnhofstraße und von Kottmann am Heinrich-König-Platz haben ihr letztlich nichts anhaben können. Doch nun werden die Karten in der Buchhandlungs-Szene der City neu gemischt: Ein Kapitel geht zu Ende. Und ein neues beginnt.

Zum 15. Juni schließt Inhaberin Sabine Piechaczek ihr Geschäft an der Sparkassenstraße – aus Alters- und gesundheitlichen Gründen, wie sie sagt. „Ich bin jetzt 65 Jahre alt, habe fast 46 Jahre meines Berufslebens bei Junius verbracht. Ich freue mich einfach darauf, Verantwortung abzugeben und mehr private Zeit mit meinem Mann verbringen zu können“, begründet sie ihre Entscheidung.

Wie der Gelsenkirchener Konkurrent Dirk Niewöhner zum Kooperationspartner wurde

Dass es ein Abschied auf Raten ist, hat ihr den Entschluss erleichtert: Zwar gibt sie ihre eigene Buchhandlung auf, übernimmt aber eine Teilzeit-Stelle beim Mitbewerber Kottmann in 150 Metern Entfernung. Und hier wird es nun komplizierter: Inhaber Dirk Niewöhner (59), der das Geschäft 2018 eröffnete, will sich ebenfalls zurückziehen. „Ich möchte den Laden in der City an meine Filialleiterin Christina Njehu übergeben, die dort mit Hilfe des Innenstadt-Förderpakts einsteigen will“, kündigt er an. Sein Geschäft in Buer will er weiter betreiben, künftig mit Unterstützung der Junius-Buchhändlerin Ute Deelmann.

„Freundschaftliche Kooperation“ nennt Sabine Piechaczek diese Entwicklung, und sie selbst überrascht das fast am meisten. Denn als sich Niewöhner vor rund fünf Jahren in bedrohlicher Nähe zu ihrer Buchhandlung niederließ, sah sie darin eher eine Konkurrenz. Zu Unrecht, wie sich herausstellen sollte: „Tatsächlich haben unsere Kunden uns weiterhin die Treue gehalten“, registrierte sie am Ende keine Umsatzrückgänge. „Und so entwickelte sich eine friedliche Koexistenz, die nun in eine Zusammenarbeit mündet.“

Gelsenkirchener Buchhändlerin wollte sich schon immer mit eigener Buchhandlung selbstständig machen

Die Zusammenarbeit habe sich eher zufällig ergeben: Schon vor fünf Jahren machte sie sich auf die Suche nach einem Nachfolger für die Buchhandlung, in der sie einst ihre Ausbildung absolviert hatte und deren alleinige Inhaberin sie 2016 wurde. Doch so richtig passte es nie mit den Interessierten, zuletzt sprang einer kurzfristig ab. „In einem Gespräch mit Dirk Niewöhner, wie es wohl weitergehen könnte, brachte er dann die Lösung mit Christina Njehu ins Spiel. Und so soll es jetzt auch kommen.“

Für die 35-jährige Njehu wird damit ein langgehegter Traum wahr, wie sie versichert. „Ich wollte mich schon immer mit einer eigenen Buchhandlung selbstständig machen. Ich hoffe sehr, dass das jetzt auch klappt. Die Stadt, der ich mein Konzept vorgestellt habe, hat sich wohlwollend geäußert. Sobald das Portal für die Fördergelder online geht, stelle ich einen Antrag.“

Buchhandlung Kottmann in Gelsenkirchener City soll zum „Literatourcafé“ werden

Die Pläne dafür liegen bereits seit Jahren als Businessplan in ihrer Schublade. Hat die in Kenia, Essen und Herten aufgewachsene Buchhändlerin doch ihr Düsseldorfer BWL-Studium genau auf dieses Ziel hin ausgerichtet. So will sie ihr „Literatourcafé“, wie das Geschäft künftig heißen soll, baulich und im Sortiment umgestalten: „Das kleine Schaufenster soll entfernt werden, um dort eine Sitzbank mit Tischen zu platzieren“, plant die Dorstenerin auf 160 Quadratmetern ein Lesecafé zum gemütlichen Schmökern und als Raum für Veranstaltungen – eben Kultur-Highlights, wie sie auch Junius seit Jahrzehnten bietet.

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„Ich möchte den Laden zu einem Forum für Diskussionen machen etwa über Politik und Stadtentwicklung.“ Auch Poetry-Slams oder Hip-Hop-Workshops seien vorstellbar. Sogar die Idee für drei Veranstaltungsreihen hat sie schon entwickelt: Bei „ReinGElesen“ soll es Büchertipps geben, wie sie bei Junius seit vielen Jahren beliebte Tradition sind unter dem Titel „Lesenswert“; unter dem Motto „ReinGEhört“ können Bands auftreten; und „ReinGEschaut“ soll buchstäblich Raum bieten für Treffen und Diskussionen.

Gelsenkirchener Existenzgründerin hat keine Angst vor der Konkurrenz Online-Handel

In Sachen Sortiment möchte sie einen neuen Schwerpunkt setzen auf internationale und Reiseliteratur. „Schon jetzt werden türkische und arabische Bücher gut nachgefragt, das möchte ich ebenso ausbauen wie das Angebot an ukrainischen Büchern in kyrillischer Schrift“, so die 35-Jährige. Zugleich will sie die Junius-Kunden und deren Vorlieben für anspruchsvolle Literatur nicht aus dem Blick verlieren. „Ich werde mein Sortiment entsprechend anpassen. Wir wollen alle abholen“, versichert sie, und Sabine Piechaczek, künftig ihre Angestellte, nickt nachdrücklich: „Jeder Buchliebhaber wird seine literarische Heimat behalten.“

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Online-Handel und E-Books hin oder her: Als leichtsinnig oder naiv empfindet sie ihren Sprung in die Selbstständigkeit nicht. „Das macht mir keine großen Sorgen, denn es gibt immer noch viele Leserinnen und Leser, die lieber ein Buch aus Papier in den Händen halten und dieses auch lieber im stationären Einzelhandel kaufen. Die Empfehlungen auf Online-Plattformen sind doch viel zu nichtssagend“, meint sie, und Piechaczek pflichtet ihr bei: „Es ist doch ein Unterschied, ob man Wein aus einem Pappbecher oder aus einem Glas trinkt.“ Niewöhner führt derweil das Einkaufserlebnis im Geschäft vor Ort an. „Die Kundschaft weiß den sozialen Austausch sehr wohl zu schätzen“, ist er überzeugt.

Wichtig für Kunden: Die Gutscheine von Junius verlieren nicht an Wert oder verfallen etwa. Ab Mitte Juni können diese Gutscheine entweder bei der Buchhandlung Kottmann in Buer oder in der City eingelöst werden.