Gelsenkirchen. Wenn Gelsenkirchener Häftlinge über Politik und EU diskutieren, wird es auch mal heiter. Die Grundkonflikte kommen auch hier schnell ans Licht.
- Die Landeszentrale für politische Bildung NRW war in der JVA Gelsenkirchen zu Gast, um über die Europawahl zu diskutieren.
- Mitgemacht haben Häftlinge, die sogenannte „Lift-Kurse“ besuchen, also wie in der Schule unterrichtet werden.
- Warum Grundkonflikte zum Thema EU auch im Knast schnell offensichtlich werden und womit die Häftlinge überraschen konnten, lesen Sie im Text.
Es ist schon etwas klischeehaft. Die Häftlinge in ihren überwiegend düsteren Oberteilen kommen den Mitarbeitern der Landeszentrale für politische Bildung (LPB) in ihren strahlend weißen T-Shirts entgegen. Gut gelaunt sind aber beide, weiß oder schwarz. Schließlich fand es auch damals in der Schule fast jeder super, wenn es mal Unterricht im Freien gab.
Kein weit hergeholter Vergleich. Die Häftlinge sind tatsächlich Schüler, haben täglich von 8 bis halb 12 Uhr Unterricht, danach Hausaufgaben. Sie haben sich erfolgreich dafür beworben, einen „Lift-Kurs“ in der JVA Gelsenkirchen zu machen. Wer keinen Schulabschluss hat, kann hier noch mal seine Grundbildung nachholen. Drei von ihnen sind sogar Studenten, machen von der Zelle aus ein Studium an der Fernuniversität Hagen.
Demokratiebildung in der JVA Gelsenkirchen: „Die Politiker tun nicht so viel“
Man ist also grundsätzlich im Schul-Modus. Und findet es vielleicht deswegen nicht kindisch, ulkig oder zu verspielt, dass der junge Mann von der LPB zum Einstieg darum bittet, sich auf Feldern mit „Yeah!“, „Häh?“ oder „Buh!“ zu platzieren, um seine Meinung zu einem Thema kundzutun. Die Landeszentrale ist heute hier, um über die Europawahl zu sprechen. Politische Bildung im Knast.
Demokratie ist der Begriff – die Häftlinge sollen sich positionieren. Zwei stehen auf dem „Häh?“-Feld. Er wisse nicht genau, was das eigentlich sei, gibt einer von ihnen zu. „Bei uns in Russland ist nur auf dem Papier Demokratie“. Ein anderer steht auf dem „Hilfe!“-Feld. Demokratie sei nur „reden und reden“, „die Politiker tun nicht so viel.“
Kurz danach wird das Spiel ein wenig abgeändert. Nun soll man sich links oder rechts platzieren – für Zustimmung oder Ablehnung. Es geht um die Frage: Ist mir Europa wichtig? Die meisten reihen sich links ein, von rechts aber macht ein Zwei-Meter-Mann mit Tunneln im Ohrläppchen auf die „ausufernde Bürokratie“ in Brüssel aufmerksam. Von links entgegnet der Kollege mit Millimeterschnitt. „Ich bin schon etwas älter und habe noch andere Zeiten erlebt, vor den offenen Grenzen.“ Bis auf die Sprachbarrieren gebe es keine Hürden in der EU, „man kann sich überall anmelden als wäre ich in meiner Heimat.“
Der Grundkonflikt mit Blick auf die EU ist auch in der JVA schnell offensichtlich. Die überregulierende Verordnungsmaschinerie auf der einen, der Freiheitsermöglicher auf der anderen Seite.
Dissens bei der Gurken-Verordnung
Die nächste Station wartet, es werden ein paar schnelle EU-Erklärfilmchen auf dem TV geschaut, der unter dem weißen LPB-Zelt im Gefängnishof aufgebaut wurde. Ein Thema ist die berüchtigte, mittlerweile abgeschaffte Gurkenkrümmungsverordnung, für viele das Lieblingsbeispiel für die Brüsseler Bürokratie. So unnötig sei die Verordnung aber gar nicht gewesen, wird im Film argumentiert. Schließlich habe sie den Transport über standardisierte Kartons vereinfacht.
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Von seiner kaufmännischen Ausbildung wisse er, dass das mit dem Transport in der Tat wichtig sei, sagt der Mann mit Millimeterschnitt. Außerdem, was sei denn die Alternative zu den Regeln für alle: „Dass jeder in Europa seinen Starrkopf durchsetzt?“ Sein Kollege mit den Tunneln ist wieder skeptisch. Vor allem nach dem weiteren Filmchen, in dem es – im sehr positiven Tenor – um das Verbrenner-Aus auf EU-Ebene und den „Green New Deal“ geht, dem großen europäischen Fahrplan für die Klimaneutralität bis 2050. „Das schwächt eindeutig die deutsche Wirtschaft“, meint er.
Als Nächstes soll aus Schaumstoffwürfeln ein Haus gebaut werden. Auf ihnen stehen Begriffe wie „Toleranz“, „Gleichstellung“, „EU“, „Respekt“ und „Rechtsstaatlichkeit“. Als Erstes wird der Würfel mit dem „Populismus“ aussortiert: „Warum das denn? Populare - das Volk?“, bringt JVA-Lehrer Patrick Keßler von der Seitenlinie seine Latein-Kenntnisse ein. „Das wird ja wohl nicht gemeint sein!“, sagt der Häftling mit dem Millimeterschnitt und schwarzem Shirt.
Ein Haus mit einem breiten Fundament
Auch sonst werden die Insassen bei dieser Aufgabe ein wenig getriezt. „Haben Sie früher kein Lego gebaut?“, zeigt sich die Dame von der Landeszentrale wenig zufrieden mit den ersten Ergebnissen. „Ohne Rechtsstaatlichkeit läuft gar nichts, sonst ist Sodom und Gomorra“, ist man im schwarzen Shirt überzeugt und setzt den entsprechenden Würfel als Fundament ein – das am Ende ganz schön breit wird. „Das ist der Trick: Die Würfel können alle das Fundament sein! Und wenn die EU obendrauf steht, vereint sie alles.“
Zwei Besuche in Haftanstalten
Vier verschiedene Gruppen hat die Landeszentrale für politische Bildung NRW bei ihrem Besuch in der JVA Gelsenkirchen getroffen, darunter auch eine Gruppe aus dem Frauenvollzug.
20 Mal ist das Team mit ihrem Zelt und Demokratie-Workshop vor der Europa-Wahl in NRW unterwegs, vornehmlich in Bildungseinrichtungen. Haftanstalten wie die JVA Gelsenkirchen sind bei der Tour etwas Besonderes, insgesamt werden nur zwei von ihnen besucht.
Ein besonders wichtiger Würfel ist in diesem Konstrukt allerdings nicht mehr besonders gut zu sehen: „Die Menschenwürde wurde versteckt, mein lieber Scholli“, merkt die LPB-Frau empört an. „Ist ja nichts Neues“, sagt ein Häftling mit Pferdeschwanz. Ist wohl Knast-Humor.
Das Haus, das am Ende steht, würde nicht unbedingt einen Architektur-Preis bekommen. Aber darum geht es auch nicht. Hauptsache, man habe sich über Begriffe wie Menschenwürde, Rechtsstaatlichkeit und Toleranz ausgetauscht, heißt es aus dem LPB-Team – bei dem man insgesamt sehr positiv überrascht ist von dem Interesse, der Offenheit, auch dem Wissensstand der Häftlinge. „Eine tolle Gruppe.“
Das Niveau bleibt auch bei der letzten Station, dem EU-Quiz, hoch. Zu jedem Mitgliedstaat gibt es eine Frage, mal politisch, mal kulturell. „Welche Aussage zum Kaiserschmarrn stimmt nicht?“, wird etwa gefragt, als es um Österreich geht. Dass der Name auf Franz Joseph I. zurückgeht? Dass die Kaiserin Sisi ihn jeden Tag aß? Dass der Teig traditionell nur aus Mehl, Milch, Eiern, Zucker und Salz besteht? Dass es ihn in verschiedenen Varianten gibt?“ „Das mit Sisi kann nicht sein“, ist sich der Große mit den Tunneln sicher. Sie habe schließlich eine Essstörung gehabt, weiß er.
Als das Quiz vorbei ist, gibt es keinen Kaiserschmarrn zur Belohnung. Dafür Gummibärchen oder Äpfel. Der Mann mit den Tunneln nimmt sich einen. „Sind die denn auch alle EU-genormt?“