Gelsenkirchen. Lisa hat zwei Jahre an der Gelsenkirchener Grundschule Kurt-Schumacher-Straße gelernt. Dann zogen ihre Eltern die Reißleine.
„Wir haben einfach unfassbares Glück gehabt“ – es ist dieser eine Satz, der mit simplen Worten das beschreibt, was Familie Müller* in den letzten beiden Jahren erlebt hat. Es ist ein Stück weit auch die Leidensgeschichte ihrer heute achtjährigen Tochter Lisa: 2021 wird sie eingeschult, an der Gelsenkirchener Grundschule Kurt-Schumacher-Straße, einer Schule, an der ein Schulstart fast ohne Deutschkenntnisse eher die Regel denn die Ausnahme ist. Für die Familie war es, wie sie es nennen, eine „Tragödie in mehreren Akten“. Lisa, dieses kleine, zurückhaltende Mädchen, sei das einzige Kind in ihrer Klasse gewesen, das muttersprachlich Deutsch gesprochen habe. Was das bedeutet, schildern die Müllers eindrücklich im Gespräch mit der WAZ.
Schule in Gelsenkirchen: Wie es ist, die einzige Deutsche in der Klasse zu sein
Mit ihrem richtigen Namen möchte die Familie nicht in der Zeitung erscheinen, sie wollen ihre Tochter schützen. Und doch wollen sie reden, über das, was da mitten in Gelsenkirchen passiert, was über die Verwaltung eines Mangels hinausgeht.
Rückblick: Lisa steht kurz vor ihrer Einschulung, um ihre zukünftige Grundschule an der Schalker Meile kennenzulernen, besucht sie das Schulspiel, eine Art Schnupper-Tag. „Schon da habe ich gedacht: Wo sind wir hier nur gelandet?“, erinnert sich Sandra Müller. „Ich wäre am liebsten weinend nach Hause gerannt“, fügt sie hinzu. Es sei wie ein „Kulturschock“ gewesen, berichtet ihr Mann Christian, der selbst Lehrer ist. Was sie so schockiert hat? „Es war die Vielfalt nicht integrierter und nicht integrationswilliger Menschen“, sagt der Familienvater ganz sachlich. Ihm ist wichtig: Das Zusammenleben der verschiedenen Kulturen empfindet er als „unfassbar bereichernd, aber wenn dadurch das Bildungsniveau leidet, dann werde ich hellhörig.“ Sie kriegen an diesem Schnupper-Tag Gesprächsfetzen mit, schnappen beispielsweise auf, dass die Kinder im Vorfeld nie einen Kindergarten von innen gesehen hätten. Sehen Dolmetscher, die versuchen, den Eltern zu beschreiben, worum es hier eigentlich gerade geht.
Grundschule Kurt-Schumacher-Straße: Das Gros der Schüler hat keine oder ganz geringe Deutschkenntnisse
Laut Schulleiter Thorsten Seiß haben zwei Drittel bis drei Viertel der Schülerschaft keine oder ganz geringe Deutschkenntnisse. Er fordert: „Wir müssen das System im vorschulischen Bereich viel stärker ausformen und überdenken.“ Er nennt das Beispiel der Erdmännchengruppen, in denen Kinder, die keinen Kindergarten besuchen, ein Jahr vor Schul-Eintritt auf die Grundschule vorbereitet werden. „Bei uns gibt es eine dieser Gruppen, wir bräuchten aber drei davon“, so Seiß.
Die Grundschule Kurt-Schumacher-Straße war für die Müllers eigentlich nie eine Option, doch aus der Not heraus hätten sie den Platz annehmen müssen. „An den anderen Schulen und auch unserer Wunschschule war alles voll, wir hatten keine Chance“, so Sandra Müller. Den einzigen Mini-Vorteil hätten sie schließlich noch darin gesehen, dass die Schule auf dem Weg zu ihrer beider Arbeit liegt.
Lisa startet im August 2021 in ihr Schul-Leben und schon am ersten Tag gibt es Kinder, die gar nicht erst gekommen seien, berichten die Müllers. Das Schuljahr schreitet voran, Lisa klagt über Bauchschmerzen, sagt immer wieder, dass sie nicht in die Schule gehen will, langweilt sich teilweise extrem. „Sie war völlig isoliert und hatte keine Kontakte“, sagt Sandra Müller. „Das war auf Dauer nicht förderlich für ihre Entwicklung“, ergänzt ihr Mann Christian.
Neben der Isolation kommt ein weiterer Punkt hinzu, der den Eltern erst so richtig gewahr wurde, als Lisa im Sommer 2023 auf eine andere Grundschule wechseln kann: „Das war wie ein Augenöffner, wo die Defizite lagen“, berichtet Christian Müller. Er führt dies zurück auf die „massive internationale Heterogenität der Lerngruppe“. Das komplette Einmaleins hätte Lisa wiederholen müssen, zwar habe Lisa eigenständig gelernt und von ihrer Klassenlehrerin auch Zusatzaufgaben bekommen. Es wurden dann vor dem Schulwechsel dennoch „sehr arbeitsreiche Sommerferien“, so Christian Müller. Dabei hatten sie zwischendurch immer wieder auch versucht, sich selbst zu beschwichtigen, mit Gedanken wie „Das bereichert Lisas Horizont, das ist lebensnäher, so ist das halt in Gelsenkirchen“, berichten die beiden.
„Wenn wir solche Pädagogen nicht hätten, wäre das System schon längst vor die Wand gefahren“
Ganz ausdrücklich, und das heben die Müllers mehrfach hervor, wollen sie der Schulleitung, dem Lehrerkollegium und der Klassenlehrerin („Wir hatten sehr Glück mit ihr“) keine Vorwürfe machen. „Wenn wir solche Pädagogen nicht hätten, wäre das System schon längst vor die Wand gefahren“, ist Christian Müller überzeugt. Und weiter sagt er: „Ich ziehe den Hut davor und beklage ausdrücklich, dass sie auf verlorenem Posten stehen. Und es blutet einem auch ein bisschen das Herz, wenn Kolleginnen und Kollegen sich so aufreiben.“
Thorsten Seiß weiß um die Probleme an seiner Schule, die nach dem neuesten Sozialindex des Landes in der höchsten Kategorie, der Stufe neun, eingruppiert wurde. „Wir versuchen, die Strukturen zu verändern“, so Seiß und er findet auch: „Es hat sich wirklich etwas getan in den letzten Monaten“, merklich sei beispielsweise die gute Stellenversorgung zum Schuljahresstart oder die gute Unterstützung seitens der Unteren Schulaufsicht. Thorsten Seiß sagt aber auch: „Wir bemühen uns, aber wir können nicht zaubern.“ Gleichheit in der Bildung, „das können wir nicht erreichen“, ist er angesichts der mannigfaltigen Herausforderungen überzeugt.
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Heinz-Peter Meidinger trägt den Titel „Präsident des Deutschen Lehrerverbands“. Als solcher forderte er vor einem Jahr Migrationsquoten an Schulen, am liebsten bis zu 35 Prozent, da bei zu hohem Anteil von Schülerinnen und Schülern Integration nicht gelingen könne. Allein: In Gelsenkirchen liegt der Anteil von Schülerinnen und Schülern mit Zuwanderungsgeschichte über alle Schulformen gesehen bei 60,9 Prozent. Unter 50 Prozent – nämlich bei 48,2 Prozent – liegt der Anteil hier nur an Förderschulen. An anderen Schulen in Gelsenkirchen liegt der Zuwanderungsanteil bei über 90 Prozent.
„Wir müssen uns den Realitäten stellen, dass der Anteil der Kinder mit Migrationshintergrund an vielen Schulen sehr hoch ist. Das heißt, das Verhältnis, das wir uns eigentlich wünschen, damit Integration und Spracherwerb gelingt, das haben wir an den allermeisten Grundschulen beispielsweise schon gar nicht mehr“, hatte Lothar Jacksteit, Gelsenkirchener Lehrer und Gewerkschafter im Gespräch mit der WAZ noch im September 2023 eingeräumt. Und auch Bildungsexperte Aladin El-Mafaalani erklärte im Gespräch mit dieser Redaktion: „Schon die armen Kinder ohne Migrationshintergrund haben in unserem System geringe Chancen. Wenn noch Punkte wie die fehlenden Sprachkenntnisse hinzukommen, wird es ungleich schwerer. An diese Schulen in so herausfordernder Lage muss man ganz anders herangehen.“
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Mit dem Start an der neuen Grundschule waren die „Bauchschmerzen vom einen auf den anderen Tag weg“, sagt Sandra Müller. Von ihrer Tochter sei eine große Last abgefallen, „sie ist jetzt so viel befreiter“. Die Familie ist froh, dass Lisa nun vor dem Wechsel an die weiterführende Schule „zwei gute Jahre“ vor sich haben wird. „Uns ging es eigentlich immer nur um das Wohl unserer Tochter.“
* Name von der Redaktion geändert; der richtige, vollständige Name ist der Redaktion bekannt.