Gelsenkirchen. Vor 150 Jahren zogen die ersten Bergarbeiterfamilien in den Klapheckenhof in Gelsenkirchen-Heßler. Wie es sich heute dort wohnt.

Gelsenkirchen war noch ein Dorf, Heßler eine Bauernschaft, als die Zeche Wilhelmine Viktoria hier 1856 mit dem Abteufen ihres ersten Schachtes begann. Der heutige Stadtteil Heßler war gerade zur Landgemeinde aufgestiegen, als 1863 erstmals eine nennenswerte Menge Kohle aus der Grube von Wilhelmine Viktoria ans Licht kam. Schon sehr bald darauf fehlte Wohnraum für die wachsende Zahl von Bergarbeiterfamilien. Es entstanden neun Häuser direkt neben Schacht I, die später im Zweiten Weltkrieg vollständig zerstört wurden. Am Fersenbruch dann, im Herzen von Heßler, entstand die noch heute intakte Siedlung „Klapheckenhof“. 1873, also vor 150 Jahren – konnten die ersten zehn Häuser dieser neuen Arbeitersiedlung bezogen werden.

Jedes Haus bot Wohnungen für vier Familien, alle mit eigenem Eingang dank des Kreuzgrundrisses. Zu jeder Wohnung gehörte ein Stall, in dem Ziege, Hühner und Kaninchen daheim waren, und ein Gartengrundstück für selbst gezogenes Gemüse. Bis 1882 folgten zwei weitere, baugleiche Häuserreihen mit je zehn Gebäuden, mit je vier Wohnungen und einer Gasse, die ums ganze Haus führt.

Erbaut für die Arbeiter der Zeche Wilhelmine Viktoria

Die Siedlung war für die Belegschaft der Zeche Wilhelmine Viktoria gebaut worden. Heßler explodierte förmlich, als hier die Kohleförderung begann.
Die Siedlung war für die Belegschaft der Zeche Wilhelmine Viktoria gebaut worden. Heßler explodierte förmlich, als hier die Kohleförderung begann. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Die Betten in den Wohnungen wurden in den ersten Jahren nie kalt. Wegen der Schichtdienste und Geldknappheit schliefen hier auch Kostgänger – in Schichten. Auf 65 Quadratmetern reiner Wohnfläche plus Nebenräumen etwa für Kohle lebten sechsköpfige Familien plus Kostgänger, zunächst mit Trinkwasserbrunnen und Toiletten außerhalb des Hauses.

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Der heute so idyllische Klapheckenhof mit seinen Gartenbänken vor fast jedem Haus war die zweite Siedlung, die auf dem heutigen Gelsenkirchener Stadtgebiet entstand, nach der kurz zuvor errichteten alten Alma-Kolonie in Ückendorf. 1873 gehörte Heßler zum Amt Gelsenkirchen, ab 1876 dann zum Amt Schalke, weitere neun Jahre später wurde Schalke dem Kreis Gelsenkirchen zugeschlagen. „Stadt“ durfte man sich schon ab 1875 nennen. 1903 wurde Heßler in die kreisfreie Stadt Gelsenkirchen eingemeindet. 1885, als mit dem Bau der zweiten Häuserzeile begonnen wurde, zählte Heßler bereits mehr als 2000 Einwohner. Zur Hoch-Zeit 1975 lebten hier 9800 Menschen, heute sind es weniger als 6000.

Eine einzige Wasseruhr für 120 Eigentumswohnungen

An einigen Anbauten sind noch die alten Kohleschuppen erhalten, hier vorne rechts im Bild zu sehen. Die Siedlungshäuser sind noch zu Zechenzeiten nachträglich auf der Schlagwetterseite verputzt worden, als Schutz vor der Witterung.
An einigen Anbauten sind noch die alten Kohleschuppen erhalten, hier vorne rechts im Bild zu sehen. Die Siedlungshäuser sind noch zu Zechenzeiten nachträglich auf der Schlagwetterseite verputzt worden, als Schutz vor der Witterung. © Funke Foto Services | Michael Korte

Heute sind die insgesamt 30 Siedlungshäuser in Privatbesitz. Allerdings nicht als Häuser, sondern als Wohnungseigentum. Grundstücke inklusive Gärten sind ebenso Gemeinschaftseigentum wie die Wasserleitungen. Es gibt eine einzige Wasseruhr für alle, und auch wenn die Gartenflächen gegenüber den jeweiligen Häusern sehr unterschiedlich groß sind, so gehört rechtlich jedem gleich viel Grund und Boden, Grenzsteine gibt es zwischen den Gärten nicht, Zäune schon. Für Missfallen sorgt hin und wieder nur die wachsende Zahl von Swimmingpools in den Gärten, die naturgemäß viel Wasser verbrauchen.

Mieter konnten ihre Wohnung für 45.000 Mark kaufen bei Privatisierung

Die Privatisierung der Siedlung, die zuletzt der RAG gehört hatte, begann 1982. Meist waren es Mieter, die ihre Wohnung zu damals recht günstigen Preisen – 45.000 Mark je Wohnung – übernahmen. Heute hat geschätzt noch die Hälfte der Bewohnerschaft in der Siedlung eine Verbindung zur Zeche. Mancher bezieht bis heute Deputatkohle und heizt damit.

Doris Eichert-Wegener hat ihre Haushälfte äußerlich originalgetreu wiederaufbauen lassen. Innen treffen Historie und Moderne aufeinander -- wie in den meisten Siedlungshäusern.
Doris Eichert-Wegener hat ihre Haushälfte äußerlich originalgetreu wiederaufbauen lassen. Innen treffen Historie und Moderne aufeinander -- wie in den meisten Siedlungshäusern. © Funke Foto Services | Michael Korte

Doris Eichert-Wegener ist zwar eine Ur-Heßlerin. In der Siedlung aber lebt sie erst seit dem Jahr 2000. Ihr Start im Klapheckenhof hätte spektakulärer kaum sein können. Sie hatte zwei der Wohnungen gekauft und wollte sie eigentlich nur renovieren. Das Dach war marode und sollte neu gedeckt werden. Doch während der Sanierung kamen den Handwerkern gleich mehrere Teile der Dachkonstruktion entgegen, auch eine Giebelwand stürzte ein. Ein Schock für Doris Eichert, aber natürlich auch für die Nachbarn rechts, links und vor allem jene in der direkt angebauten anderen Haushälfte. Rund um die vier Wohnungen in jedem Haus verläuft eine Gasse; zwischen den beiden Hälften in der ersten und zweiten Stichstrasse jedoch gibt es nichts als eine einzige Mauer.

Als der Architekt den Abrissbagger zum Einsatz brachte

Das unechte Original von außen: Der Neustart in der Siedlung war für Hausherrin Doris Eichert-Wegener nicht leicht.
Das unechte Original von außen: Der Neustart in der Siedlung war für Hausherrin Doris Eichert-Wegener nicht leicht. © Funke Foto Services | Michael Korte

Um es kurz zu machen: Die Handwerker befanden, dass nichts mehr zu retten sei, der Architekt habe behauptet, vom Bauordnungsamt die Abrissgenehmigung für die Haushälfte bekommen zu haben und ließ den Bagger ungefragt zur Tat schreiten, erinnert sich Doris Eichert-Wegener. Sie erinnert sich gut, denn in der Folge ergoss sich ein Shitstorm über sie, der sich gewaschen hatte. Sie wurde beschuldigt, absichtlich ein Denkmal dem Erdboden gleich gemacht zu haben.

Die Gartengrundstücke wurden früher zur Selbstversorgung genutzt. Heute findet sich in manchem Garten jedoch auch bereits ein Pool: Nicht immer zur Freude der Mitbewohner.
Die Gartengrundstücke wurden früher zur Selbstversorgung genutzt. Heute findet sich in manchem Garten jedoch auch bereits ein Pool: Nicht immer zur Freude der Mitbewohner. © Funke Foto Services | Michael Korte

Das Gericht verurteilte sie zwar nicht, aber der Wiederaufbau des Hauses musste im Außenbereich originalgetreu, entsprechend der damals bereits gültigen Gestaltungssatzung der denkmalgeschützten Siedlung erfolgen. Erst zwei Jahre später konnte die Familie das neue Haus beziehen, in dem Sprossenfenster mit Halbbögen im oberen Abschluss Platz fanden, auch Haustür und Dach entsprechen den Regeln. Gegenüber dem Hauseingang, über dem Carport, an den sich das Gartengrundstück anschließt, prangt ein Schild „Prinzenparkplatz“. Wie es sich für eine idyllische Siedlung gehört, werden fremde Parker hier nicht geduldet. Die meisten Siedler hier haben Doris Eichert-Wegener mittlerweile verziehen, sie sogar mit als Beiratsvorsitzende gewählt.

Die Baustelle am fälschlich abgerissenen Siedlungshaus sorgte anno 2000 für viel Aufregung und endete vor Gericht.
Die Baustelle am fälschlich abgerissenen Siedlungshaus sorgte anno 2000 für viel Aufregung und endete vor Gericht. © Funke Foto Services | Michael Korte

Im Sommer ist die idyllische Siedlung auch ein Magnet für Ausflügler

Im Hausinneren ihres originalgetreuen Neubaus mit zwei Haustüren allerdings sind zwei Wohnungen zu einer verschmolzen. In dem großen, aber anheimelnden Wohnraum sind auch die Möbel historisch, massive Familienerbstücke passend zum historischen Gesamtbild der Siedlung. Die Küche liegt – wie auch im Original – einige Stufen tiefer, eine Zwischenebene darüber führt ins moderne Bad. Hier lässt es sich gut leben.

Und das Miteinander in der Siedlung mit so vielen Eigentümern? Es gehe gut, bis heute, versichert die Hausherrin. Noch immer gebe es hin und wieder kleine gemeinsame Feiern. Und wie malerisch die Siedlung ist, das wissen auch zahlreiche Auswärtige. Im Sommer sind hier immer wieder Ausflügler anzutreffen, die gern auch mal einen Blick durch die Fenster der Siedlungshäuser werfen. .