Gelsenkirchen. Ein Dachdecker-Meister in Gelsenkirchen spricht über Probleme, die er beim Nachwuchs sieht. Es geht um Sprachbarrieren und soziale Schieflagen.
- Innungsobermeister Mike Sternkopf berichtet von zahlreichen Problemen in der Dachdecker-Ausbildung. Oft hätten die Azubis in Gelsenkirchen Sprachprobleme und schwierige soziale Biographien.
- Sternkopf plädiert dafür, mehr soziales Coaching und Deutschkurse in der Ausbildung einzuführen.
- Gleichzeitig kritisiert er, dass die Handwerkerausbildung weiterhin einen so geringen Stellenwert in der Gesellschaft hat.
Ohne Dachdecker wird die Energiewende in Deutschland nicht zu wuppen sein. Ob Solar- oder Gründach: Für den klimabewussten Wandel des Eigentums braucht es Expertise auf den Ziegeln – also auch gut ausgebildeten Nachwuchs. Mike Sternkopf, Obermeister der hiesigen Dachdecker-Innung, muss allerdings die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er an die Defizite denkt, die er bei den Azubis seit einigen Jahren zusehends feststellt. Er findet: Man müsste ganz neue Wege beschreiten, um die Probleme aufzufangen.
„Sprachbarrieren sind in unserer Branche ein großes Thema“, sagt Sternkopf. Viele junge Menschen, die eine Dachdecker-Ausbildung starten, hätten kaum mehr Deutschkenntnisse. „Und über Rechtschreibung und mathematische Kenntnisse möchte ich gar nicht reden“, so der Obermeister. Nicht selten seien es Menschen aus dem Fluchtgeschehen, die in den Betrieben anfingen. „Und in der Berufsschule kommen die dann nicht mehr mit.“
Dachdecker-Meister: Immer mehr junge Gelsenkirchener haben Probleme mit Tagesstruktur
Denn Deutsch als Fremdsprache werde dort nicht unterrichtet, obwohl Berufsschullehrer durchaus dazu bereit wären. „Sie würden das gerne zusätzlich anbieten“, sagt Sternkopf. Dass sie das nicht können, sei nicht nur ein Kapazitätsproblem. „Sie dürfen es schlichtweg nicht.“ Schließlich sei eine gesonderte Qualifikation nötig, um Deutsch als Fremdsprache zu lehren. Sternkopf fordert deswegen, die Schranken dafür zu senken, entsprechende Deutschkurse anzubieten. „Wenn wir über gelungene Integration in Deutschland sprechen, dann wäre das ein Weg.“
Es sind nicht nur die mangelhaften Sprachkenntnisse. „Wir haben in Gelsenkirchen ein ganz hohes Maß an Menschen, die es nicht durchhalten können, um 7 Uhr bei der Arbeit und um 16 Uhr fertig zu sein, weil sie eine schwierige soziale Historie haben“, so Sternkopf. Gerade in den vergangenen zwei, drei Jahren sei eine „zunehmende Veränderung“ spürbar.
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Es gehe dabei beispielsweise um junge Menschen, „die in zweiter oder dritter Generation von Bürgergeld leben und nicht gewohnt sind, Fürsorge von ihren Eltern zu bekommen.“ Es gebe zwar auch Positiv-Beispiele von Azubis, die sich trotz einer schwierigen sozialen Biographie toll machten. „Viele fallen aber in ein totales Loch, wenn sie vom schulischen System in die Ausbildung wechseln“.
Während man in der Schule noch Unterstützung durch Sozialarbeiter, Lehrer oder Hilfsprogramme erhalte, seien die Menschen bei Ausbildungsstart dann plötzlich im Wesentlichen auf sich alleine gestellt. „Man hat auf einmal eine eigene Verantwortung, ein eigenes Konto, muss seinen Tag selbst strukturieren. Dabei fehlt vielen das Wissen darüber, wie das überhaupt gehen soll“, beobachtet Sternkopf. „Wir entlassen die jungen Leute damit regelrecht in ein Nirwana! Das ist ein Schockerlebnis, das früher durch das Elternhaus kompensiert werden konnte. Heute geht das aber viel seltener.“
Dachdeckermeister aus Gelsenkirchen: „Bild, was vom Job herrscht, ist nicht gerecht“
Der Innungsobermeister plädiert deshalb dafür, ein „weiterführendes soziales Coaching“ während der Ausbildung einzuführen. Man müsse viele junge Menschen in Gelsenkirchen auch während der Lehre viel intensiver begleiten. Insbesondere für die Dachdecker-Ausbildung sei dies wichtig. Denn diese würden häufig Menschen aus schwierigen gesellschaftlichen Verhältnissen beginnen. „Obwohl das natürlich völlig unangemessen ist“, sagt Sternkopf, der sich mehr Wertschätzung gegenüber Handwerksberufen wünscht. „Das Bild, was oft vorherrscht, ist nicht gerecht“, findet er – erst recht nicht mit Blick auf all die Photovoltaik-Anlagen, die auf den Dächern der Republik landen sollen.