Gelsenkirchen. Gibt es den Willen, Gelsenkirchen zu helfen? „Nein“ – Wolfgang Schreck, bisheriger Jugendamtsleiter, blickt zurück auf 30 Jahre mit Familien.
Der Leiter des Referates Kinder, Jugend und Familie, Wolfgang Schreck (noch 65), ist zum 1. September in den Ruhestand gewechselt. 30 Jahre lang war er im Dienste von Kindern, Jugend und Familien in Gelsenkirchen aktiv. Wir haben mit ihm gesprochen – über die starke Belastung im Jugendamt, Christian Lindners Perspektive auf Kinderarmut und riskante Fälle.
Herr Schreck, Sie kennen Gelsenkirchens Familien in Not seit 1991, als Sie im Schweizer Dorf als Psychotherapeut in der Familienberatung begonnen haben. Sie wussten also, womit ihr Team es zu tun hat, als Sie die Referatsleitung 2015 zunächst kommissarisch von Alfons Wissmann übernahmen. Wie war der durch den Skandal bedingte „Seitenwechsel“ für Sie?
Wolfgang Schreck: Das wirklich gute, verlässliche Team hat es mir leicht gemacht. Aber es hat viel Kraft gekostet, zumal die Gewerkschaft Verdi kurz danach einen großen Streik ausgerufen hat. Es war schon schwer, mit der Situation umzugehen: Wissmann war 20 Jahre mein Chef.
In Ihrer Anfangszeit wurden die Referate umorganisiert.
Ja, Schule/Bildung und Jugend/Familie wurden in eigene Referate getrennt. Die Situation an den Schulen wurde immer schwieriger, aufgrund von Veränderungen in den Familien. Die EU-Ost-Öffnung und die Zuwanderung 2015/2016 haben das noch verstärkt. Schule allein zu denken ist sinnvoll, zumal es auch vom Land immer mehr Herausforderungen gab und gibt, zum Beispiel die Umstellung auf G8 und zurück auf G9 sowie den Rechtsanspruch auf einen Offenen Ganztagsplatz. Der Ganztag ist sehr wirksam für Kinder aus prekären Lebensverhältnissen, das zeigen Studien und auch unsere Erfahrungen aus dem Zusi-Projekt (Zukunft sichern, Anm. d. Rdk.). Aber um die Kinder angemessen zu fördern, braucht es mehr als Räume. Um Konzepte zu entwickeln und Personal zu gewinnen, fehlen aber noch immer die Rahmenvorgaben des Landes, und 2026 ist quasi morgen.
Hat vor allem die Migration die Situation schwieriger gemacht?
Nein. Gesellschaft verändert sich. Wir haben viel mehr erodierte Familiensysteme, wir haben mehr berufstätige Frauen, und Letzteres ist vollkommen positiv. Aber es macht die Anforderungen an Tagesbetreuung höher, weil weniger Zeit von Eltern mit Kindern zustande kommt. Das betrifft alle Familien. Die Familien werden kleiner und damit auch die Unterstützungsmöglichkeiten von Verwandten, die Herausforderungen werden zugleich größer. Armut war in Gelsenkirchen schon vor mehr als 30 Jahren ein Problem, die Zuwanderung ist lediglich dazu gekommen. Und dabei ist es auch nur die Armutsmigration, nicht Flüchtlinge allgemein.
Wieviel Hoffnung setzen Sie nun in den Kompromiss zur Kindergrundsicherung?
Es gibt nicht mehr Geld, nur mehr Berechtigte, die es in Anspruch nehmen. Zumindest ist das die Hoffnung. Mir ist nur völlig unklar, wie es umgesetzt werden soll. Ein Beispiel: Wir als Jugendamt zahlen den Unterhaltsvorschuss. Das ist sehr aufwendig, zumal Unterhaltspflichtige in ihren Angaben zum Einkommen nicht immer ehrlich sind. Und man will ja versuchen, das Geld zurückzubekommen. Das Verfahren soll einfacher und digitaler werden. In unseren Familien gibt es aber Analphabeten und viele, die nicht digital-affin sind. Wir als Jugendhilfe setzen auf persönlichen Kontakt, unsere Sozialarbeiter weisen auf die Unterstützungsmöglichkeiten hin. Ob das nun wirklich niederschwelliger wird, wenn die Familienkasse bei der Arbeitsagentur übernimmt, bezweifele ich.
Hat Finanzminister Christian Lindner recht, wenn er sagt, Geld auszuzahlen hilft den Kindern nicht?
Ja und nein. Nur mehr Geld für die Familien hilft nicht, wir müssen die Einrichtungen besser ausstatten. Aber Studien zeigen auch: Wenn man Kinder befragt, wie Armut sie einschränkt im Alltag, dann sagen sie, dass sie darunter leiden, keine anderen Kinder einladen zu können. Weil ihre Wohnung zu klein ist, weil sie ihnen kein Essen anbieten können, sie auch nicht zu Geburtstagen einladen können. Kinder merken im Vergleich untereinander, dass sie anders sind. Und sie versuchen dann auf anderen Wegen auf sich aufmerksam zu machen. Zum Teil wohl leider auch mit Übergriffen. Es braucht mehr Geld für die Eltern und mehr Investitionen in Strukturen.
Es gab heftige Klagen von Mitarbeitern des Jugendamtes über ihre Arbeitssituation wegen Überlastung und Unterbesetzung. Konnten Sie das verbessern?
Aufstockung im Sozialen Dienst geplant
Im Sozialdienst Schule stehen 28 Stellen zur Verfügung, davon sind 20 bei den freien Trägern angesiedelt. Im vergangenen Jahr wurden insgesamt 618 Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene durchgeführt. Davon waren 380 Hilfen in Form einer Schulbegleitung als Integrationshelfer.
Im Bereich Allgemeiner Sozialer Dienst stehen aktuell 105,25 Stellen zur Verfügung. Davon sind allerdings zur Zeit 18,9 Stellen nicht besetzt. Auf Basis einer durchgeführten Personalbemessung sollen weitere Planstellen im Allgemeinen Sozialdienst angesiedelt werden. Die genaue Zahl wird in der kommenden Woche Jugendausschuss benannt.
Die Situation ist weiterhin schwierig. Wer direkt mit den Familien arbeitet, der muss hart arbeiten und wird immer wieder in Situationen kommen, die schwierig sind. Das kriegt man gut hin, wenn man gute Kollegen und die in ausreichender Zahl hat. Aber Stellen zu besetzen, ist die Herausforderung, der Fachkräftemangel ist verheerend. Wir stellen zwar auch dual Studierende ein, da macht jetzt der erste Jahrgang den Abschluss. Es braucht vier Jahre, bis das Personal dann auch da ist. Zugleich steht uns eine Pensionierungswelle bevor. Wir zahlen gut, die Mitarbeiter haben Dienstwagen, was unüblich ist, und es gibt zusätzliche Verwaltungsmitarbeiter, um die Sozialarbeiter zu entlasten. Trotzdem: Es reicht momentan noch nicht.
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Gibt es noch Jugendfreizeiten für benachteiligte Jugendliche, um sie rauszuholen aus dem Alltag?
Das können wir aktuell nicht mehr anbieten. Es wurde von ehrenamtlichen Mitarbeitern, zum Teil aus dem Jugendamt, begleitet, aber das schaffen wir nicht mehr. Wir überlegen derzeit, ob wir Zuschüsse zu Jugendfahrten anderer Anbieter zahlen können.
Wie läuft es aus Ihrer Sicht mit der Integration?
Der Bedarf an Inklusionshelfern für seelisch Beeinträchtigte wie etwa Autisten, die ja in unseren Bereich fallen, wächst immens. Viele von ihnen könnten gar nicht mehr beschult werden ohne diese Unterstützung. Weil in den Schulen auch Personal fehlt. Es ist eine große Herausforderung, die Behindertenrechtskonvention umzusetzen. Das ist nur über Einzelhilfen möglich. Das System Schule schafft es nicht mehr, und das widerspricht dem Inklusionsgedanken. Das wird uns noch über Jahrzehnte beschäftigen.
Sehen Sie den Willen, Städten wie Gelsenkirchen mit ihren besonderen Herausforderungen zu helfen?
Nein. Wenn man in großen Runden die Situation in Gelsenkirchen schildert, dann bemerkt man, dass es als spezielles Gelsenkirchener Problem angesehen wird. Dass das auch in Duisburg und anderen Ruhrgebietskommunen so ist, dass es schwerer ist als in mancher Sauerlandkommune, wird ausgeblendet. Dabei kann fehlende Unterstützung ebenso wie ein mehrfacher Wechsel der Klassenleitung, weil die abgeordnete Lehrkraft wieder ins Münsterland geht, eine Bildungskarriere kippen lassen. Kinder mit starkem familiärem Hintergrund schaffen das, aber die schwächeren vielleicht nicht.
Wenn Sie zurückschauen: Was war am schwierigsten auszuhalten in Ihrer Dienstzeit?
Die drei getöteten Kinder. Das vergisst man nicht. Das sind alles Fälle gewesen, die wir gut betreut haben. Trotzdem sind sie gestorben. Sozialarbeiter ist ein Job mit sehr viel Verantwortung. Es ist ein Job, in dem man sehr viel tut, um ganz wenig zu erreichen. Und wenn man mit einem fertig ist, kommt das nächste. Nach diesen Fällen sind unsere Mitarbeiter im Zweifel immer eher einmal mehr zu den Familien gegangen. Wir haben immer Fälle, die riskant sind, wo man abwägen muss, ob man einschneidende Schritte wie die Herausnahme aus der Familie einleitet. Aber abschließend muss ich sagen: Es ist nicht nur belastend, es gibt sehr wohl auch positive Erlebnisse für Kinder und Jugendliche in unseren Einrichtungen. Und das spiegeln die auch zurück.
Was sind Ihre Pläne für den Ruhestand?
Meine Leitungsfunktion ist seit dem 31. August beendet, aber bis zur Übernahme durch meinen Nachfolger Björn Rosigkeit springe ich stundenweise beratend ein. Danach werde ich noch ein wenig psychotherapeutisch arbeiten, in meinem eigentlichen Beruf. Und ich habe mich als Schöffe beworben.