Gelsenkirchen. Die Ampel streitet heftig über sie, Gelsenkirchen wartet gespannt auf sie: die Kindergrundsicherung. Aber wird sie wirklich etwas verbessern?

Die Ampel in Berlin streitet bekanntlich über viele Themen, aber die Kindergrundsicherung reiht sich gleich hinter dem Heizungsgesetz ein als eines der umstrittensten Gesetzesvorhaben. Dabei könnte sie gerade in Gelsenkirchen für große Erleichterung bei vielen ärmeren Familien sorgen – so zumindest die Annahme von Parteien wie die Grünen oder die SPD, von Armutsforschern und Wohlfahrtsträgern. Nur ist das tatsächlich so? Wolfgang Schreck, Leiter des Referats Kinder, Jugend und Familien, warnt davor, in der automatischen Auszahlung von Leistungen, die Grundbestandteil der Kindergrundsicherung sein soll, ein Allheilmittel zu sehen. „Armut bekommt man nicht über veränderte Finanzströme gelöst. Man braucht Stellen, die Kontakt zu den Menschen suchen, auf sie zugehen“, sagt er.

„Scheckkarten“ für bedürftige Familien: Darum ist die Stadt Gelsenkirchen dagegen

Das vermutlich größte sozialpolitische Vorhaben der Ampel soll das bisherige Nebeneinander unterschiedlicher familienpolitischer Leistungen ablösen und sie alle in einem Auszahlungsbetrag bündeln. Darunter fallen unter anderen Leistungen für „Bildung und Teilhabe“ (BuT). Dahinter verbergen sich sechs verschiedenste Leistungen für bedürftige Familien. Zum Beispiel kann eine Klassenfahrt abgerechnet, Vereinsmitgliedschaften können mit 15 Euro bezuschusst und auch das Mittagessen in der Schule oder Kita kann übernommen werden. Für jede Leistung muss ein eigener Antrag gestellt werden. Die Kindergrundsicherung soll das ändern.

Parallel zur Zusammenfassung der Beiträge sollen Familien insgesamt mehr Geld zur Verfügung haben als jetzt. Wie viel Geld dafür aus dem Bundeshaushalt bereitgestellt werden soll, ist ein großer Streitpunkt zwischen Finanzminister Christian Lindner (FDP) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne). Einig sind sich die Regierungsparteien aber immerhin bei der Frage, dass die Leistungen einfacher an die Berechtigten müssen. Wie das genau laufen soll, wird gerade in Paus’ Ministerium erarbeitet.

Hintergrund ist, dass viele berechtigte Familien die BuT-Leistungen aktuell nicht abrufen. In Gelsenkirchen haben deshalb sowohl die Grünen sowie jüngst auch die FDP den Vorschlag eingebracht, nach dem Vorbild der Stadt Hamm „Scheckkarten“ für bedürftige Familien einzuführen, über die diese ihre Leistungen online „abbuchen“ und somit direkt bezahlen können. Rein theoretisch werden mit so einem System alle berechtigten Familien erreicht – allerdings ist damit noch nicht gesagt, dass die Angebote auch tatsächlich wahrgenommen werden.

Bildung und Teilhabe: Stadt Gelsenkirchen will „dahin, wo die Ansprüche entstehen“

Das betont auch die Stadt Gelsenkirchen, die deshalb einen anderen Weg gewählt hat: Statt „Scheckkarten“ auszugeben oder – wie die Stadt Bochum – 15 Euro monatlich für Vereinsmitgliedschaften oder Ferienfreizeiten (eine der BuT-Leistungen) pauschal an bedürftige Familien zu überweisen, versucht man in der Emscherstadt, die Familien durch Präsenz auf die Leistungen aufmerksam zu machen. „Wir gehen dahin, wo die Ansprüche entstehen: Zu Elternabenden, Kitas, Elterntreffs, wir sind in vielen Netzwerken aktiv“, sagt Melanie Terbeck, Leiterin des BuT-Teams der Stadt.

Wolfgang Schreck, Leiter des Jugendreferats in Gelsenkirchen: „Die größte Herausforderung ist nicht der Überweisungsvorgang, sondern diese Hilfe für Familie zu organisieren.“
Wolfgang Schreck, Leiter des Jugendreferats in Gelsenkirchen: „Die größte Herausforderung ist nicht der Überweisungsvorgang, sondern diese Hilfe für Familie zu organisieren.“ © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Ob es an der direkten Ansprache der Stadt liegt, oder daran, dass es einfach immer mehr arme Familien gibt – das lässt sich freilich nicht festmachen. Fakt aber ist: Die Stadt Gelsenkirchen zahlt immer mehr BuT-Leistungen aus: 2017 waren es noch knapp 4,9 Millionen Euro, 2022 schon knapp 7 Millionen Euro. „Und dieses Jahr werden wir die Grenze von 7 Millionen Euro voraussichtlich übersteigen“, prognostiziert Terbeck. 2017 wurden 22.000 Kinder erreicht, im letzten Jahr waren es 25.000 Kinder.

Wie groß der Kreis der potenziell Berechtigten tatsächlich ist, weiß das Jugendreferat nicht. Einer Studie des Paritätischen aus dem Jahr 2020 zufolge kamen die Mittel in Gelsenkirchen damals nicht mal bei jedem zehnten Anspruchsberechtigten an.

Sorge: Orientierungshilfe könnte bei der Kindergrundsicherung wegfallen

Beantragung von BuT-Leistungen: Ein Fallbeispiel

Aktuell läuft die Beantragung so: Eine – beispielsweise – alleinerziehende Mutter, die Wohngeld oder Bürgergeld erhält, erfährt bei einer Veranstaltung der Schule ihres Sohnes, dass sie Anspruch auf Leistungen wie Lernförderung oder Mittagessen aus dem BuT-Paket hat. Anschließend kontaktiert sie das Team Bildung und Teilhabe an der Horster Straße 6 oder Kurt-Schumacher-Straße (Besuch ohne Termin möglich), gibt dort einen Nachweis ab, dass sie Wohngeld erhält und reicht die einseitigen Anträge für die jeweiligen BuT-Leistungen ein. Diese werden folgend vom Jugendreferat an den Leistungserbringer überweisen – also zum Beispiel an den Caterer der Schule oder den Nachhilfegeber. Für die „soziale und kulturelle Teilhabe“ (15 Euro pro Monat für Vereine und Kultur) erhalten die Berechtigten einen Gutschein, den sie bei den Vereinen abgeben können.Lediglich das sogenannte Schulbedarfspaket aus dem BuT bekommen die bedürftigen Familien direkt überwiesen. Dahinter steckt Geld für notwendige Schulmaterialien – 116 Euro sind es künftig.

„Es ist tatsächlich eine Herausforderung für junge Familien, sich in diesem Dickicht an Leistungen zurechtzufinden, auch wenn wir das in Gelsenkirchen gut organisiert haben“, sagt Wolfgang Schreck, der deshalb „durchaus Potenzial“ sieht, das System zu vereinfachen. „Aber“, so Schreck, „die größte Herausforderung ist nicht der Überweisungsvorgang, sondern diese Hilfe für Familien zu organisieren.“ Wichtiger als die „Ökonomisierung von Verwaltungsvorgängen“ durch eine schnelle Auszahlung der Hilfen sei also vielmehr, mit den Familien auf Elternabenden und Co. in Kontakt zu kommen, um auf ihre individuelle Problemlage eingehen zu können.

„Wenn die Familien das Geld in der Tasche haben, heißt das ja nicht, dass die Kinder damit auch so etwas machen wie Vereinssport“, so Melanie Terbeck. Wofür das Geld aus der Kindergrundsicherung genutzt werde, sei also nicht klar. Aktuell dagegen sei es so, dass die Familien eine Liste mit zahlreichen Vereinen aus Gelsenkirchen – vom Angelverein über Ballett bis Sportschießen oder Tennis – überreicht bekämen, um dort ihre BuT-Ansprüche wahrnehmen zu können. Die Sorge ist, dass diese Orientierungshilfe bei der Kindergrundsicherung wegfallen könnte.

„In Gelsenkirchen leben über 40 Prozent der Kinder in Bedarfsgemeinschaften“, ergänzt Schreck. Da sei es schwierig, ausschließlich von „eigenverantwortlichen, aktiv handelnden Menschen“ auszugehen. „Die gibt es sicher auch, aber unser Job als Jugendamt ist es, sich auch um die andere Seite zu kümmern.“