Gelsenkirchen. „Bildung muss endlich zur Chefsache werden“: Experte Aladin El-Mafaalani sieht nur noch eine Option, um den Abwärtstrend der Schulen zu stoppen.

  • Die WAZ Gelsenkirchen hat für das Online-Dossier „Bildungskatastrophe“ mit dem renommierten Soziologen Aladin El-Mafaalani gesprochen.
  • Im Interview wirbt der Bestseller-Autor für ein Sondervermögen Bildung und sagt: „Bildung muss endlich zur Chefsache werden“.
  • Dass die Rechte von Kindern immer noch zu wenig berücksichtigt werden, sei angesichts der demografischen Situation fatal. „Es lohnt sich deshalb ernsthaft, über einen gesetzlich verankerten Minderheitenschutz für Kinder nachzudenken“, so El-Mafaalani.

„Wenn alle pessimistisch werden, wirkt der Realist wie ein Optimist“: Es ist ein Zitat, das Aladin El-Mafaalani – Bestseller-Autor („Das Integrationsparadox“, „Mythos Bildung“), Lehrstuhlinhaber, Bildungsexperte – prominent auf seiner Website platziert hat. Der Optimismus ist bei dem renommierten Soziologen allerdings derzeit nur schwer zu erkennen, wenn über den Zustand des deutschen Bildungssystems geredet wird. Er sieht nur noch eine Möglichkeit: Bildung muss endlich Chefsache werden. Ein Gespräch über mangelndes Problemverständnis, „Superdiversität“ und Gelsenkirchens Sonderprobleme

  • Dieser Text ist Teil des Online-Dossiers „Bildungskatastrophe: So steht es um unser Schulsystem“ der WAZ Gelsenkirchen. Alle Analysen, Berichte und Reportagen zum Thema finden Sie hier!

Herr El-Mafaalani, ist das Bildungssystem noch ohne ein Sondervermögen zu retten?

Aladin El-Mafaalani: Wenn Sie damit fragen wollen, ob der Abwärtstrend des Bildungssystems noch ohne ein solches Sondervermögen zu stoppen wäre, dann ist meine Antwort: Nein. Wir brauchen eine enorme Verstärkung der Bildungsinvestitionen. Auch ein Haus, das nicht mehr bewohnbar ist, steht noch über 50 Jahre, bevor es einstürzt. So wie das Bildungssystem jetzt ist, kann man es also noch relativ lange irgendwie aufrechterhalten. Aber um die negative Entwicklung nicht nur zu stoppen, sondern sie umzukehren, braucht es ganz großes Engagement, auch von Finanzministern.

Die Ampel-Regierung wirbt mit einer „Bildungsmilliarde zusätzlich im Jahr“. Reicht das nicht?

Eine Milliarde hilft so gut wie gar nicht. Was wir brauchen, ist ein krasses und glaubhaftes Signal, dass sich wirklich nachhaltig etwas verändert. Ein „Sondervermögen Bildung“ wäre so ein Signal. Die jungen Leute, die man jetzt über Kampagnen versucht, in die pädagogischen Mangelberufe zu lenken, kommen ja gerade aus jenem System, für das sie zukünftig arbeiten sollen. Die wissen genau, was in den Schulen los ist. Ohne ein wirklich starkes, in die Zukunft gerichtetes Zeichen wird man nicht das notwendige Personal bekommen.

In NRW versucht man an kleineren Schrauben zu drehen: Bildungsministerin Dorothee Feller will den Lehrermangel unter anderem mit mehr Seiteneinsteigern und Alltagshelfern, besserer Besoldung oder mehr Zwangsabordnungen bekämpfen. Ist das schon mal ein gutes Signal?

Das Paket geht insgesamt in die richtige Richtung, aber es ist zu spät und zu wenig. Es ist notwendig und sinnvoll, aber am Ende nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das entscheidende Problem ist, dass die Schulministerien nicht die richtigen Ansprechpartner sind, um den Abwärtstrend noch zu stoppen. Sie können nur noch Mangelverwaltung und Krisenmanagement leisten. Um die großen Probleme im Bildungssektor tatsächlich anzugehen, muss Bildung zur Chefsache werden, die Ministerpräsidenten müssen sich zusammensetzen, gemeinsam mit dem Bundesfinanzminister und dem Bundeskanzler.

In Gelsenkirchen werden ohnehin viele Kinder mit Migrationshintergrund beschult. Hinzukommen die vielen Geflüchteten und – eine Besonderheit für die Stadt – sehr viele junge Menschen aus Südosteuropa. Es gibt hier also in vielen Klassen das, was Sie „Superdiversität“ nennen würden. Eine große Herausforderung – wie ist die zu meistern?

Superdiversität gibt es auch verstärkt dort, wo es kaum „Brennpunkt-Schulen“ gibt – zum Beispiel in Bayern und Baden-Württemberg. Superdiversität an sich ist also nicht die Haupt-Herausforderung. Sie wird aber zu einer großen Herausforderung, wenn sie mit einer Konzentration von Armut zusammenkommt. Das wiederum ist ein sehr ruhrgebietsspezifisches Problem. Der Soziologe Marcel Helbig hat aktuell in einer Studie für die Einzugsgebiete aller Grundschulen in Deutschland die Kinderarmutsquoten berechnet. Hier sieht man, dass die größte Konzentration von Kindern in SGB-II-Bezug im Ruhrgebiet liegt. Schon die armen Kinder ohne Migrationshintergrund haben in unserem System geringe Chancen. Wenn noch Punkte wie die fehlenden Sprachkenntnisse hinzukommen, wird es ungleich schwerer. An diese Schulen in so herausfordernder Lage muss man ganz anders herangehen.

Wie schafft man das?

Man bräuchte mehr multiprofessionelle Teams, mehr Lehrkräfte für Deutsch als Zweitsprache – eine Gruppe übrigens, die derzeit schlechte Arbeitsbedingungen hat, kaum entfristet und nicht verbeamtet wird. Man bräuchte aber vor allem auch mehr Flexibilität. Die Schulen bräuchten ein eigenes Budget, also eigene Geldmittel, um vor Ort eigene Lösungen zu entwickeln. Wenn zu wenige Lehrkräfte oder Sozialarbeiter da sind, müssten sie die Möglichkeit haben, andere Leute einzustellen. Sie bräuchten Möglichkeiten, Ehrenamtliche und Vereine systematisch einzubeziehen. Die Schulen müssten viel mehr Kompetenzen haben und sollten viel weniger das Ministerium fragen müssen.

Ein eigenes Budget – das würde nicht gehen, ohne die Ressourcen in den Problemlagen zu bündeln.

Ja, man müsste die Ressourcen an die Herausforderungen koppeln. Hamburg ist hierbei am weitesten. Es wird Monitoring betrieben, um die Mittel systematisch dorthin zu lenken, wo sie besonders benötigt werden. In die Richtung versuchen jetzt mehr Bundesländer zu gehen. Aber auch das funktioniert nicht mit Kleckerbeträgen, sondern nur mit großen Investitionen. Denn man muss wissen: Auch in Hamburg haben sich die Ergebnisse der Kinder verschlechtert, allerdings weniger stark als in den anderen Bundesländern.

Warum scheint die Politik das nicht zu verstehen?

Ich habe immer stärker das Gefühl, dass das Problem nicht richtig verstanden wird. Bildungspolitiker haben schon einen ganz guten Überblick – aber die Politiker in den Chefpositionen in Land und Bund sehen offenbar nicht, dass die aktuellen Entwicklungen nur mit ganz viel Mühe umkehrbar sind und wir an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen. Es ist aber nicht nur die Politik: Die Bevölkerung hat insgesamt noch nicht nachvollzogen, dass jedes dieser Kinder, über die wir hier reden, zwei sogenannte Babyboomer ersetzen soll. Wir sind eine alte Bevölkerung, die sich intuitiv nicht so sehr für die Belange der Jüngsten interessiert. Das hat sich auch in der Corona-Pandemie gezeigt, in der wir so stark wie kein anderes Land Kinder und Jugendliche unnötig belastet haben. Und wir werden als Gesellschaft immer älter, die Kinder und Jugendlichen werden eine immer kleinere gesellschaftliche Gruppe. Es lohnt sich deshalb ernsthaft, über einen gesetzlich verankerten Minderheitenschutz für Kinder nachzudenken.

Lehrermangel, Armut, Superdiversität – in Gelsenkirchen stoßen die angesprochenen Herausforderungen besonders heftig zusammen. Die Stadt hat es aber noch nicht gewagt, öffentlichkeitswirksam Richtung Bund und Land klar zu machen: Wir können einfach nicht mehr. Dahinter steckt auch die Angst, so möglicherweise noch die letzten Lehrkräfte abzuschrecken, die sich vorstellen könnten, doch in Gelsenkirchen zu arbeiten. Ist es aus Ihrer Sicht klug, dass sich die Stadt zurückhält oder braucht es ihn – den großen Aufschrei der besonders betroffenen Kommunen?

Es hätte garantiert den Effekt, den die Stadt vermutet: Dass man noch mehr wahrgenommen wird als Kommune, die unattraktiv für Lehrkräfte und Eltern ist. Und: Unsere Problemlage könnte so als selektives Problem einer Stadt wahrgenommen werden. Die Schulen in ganz besonders schwieriger Lage sind zwar zu einem Drittel in NRW. Aber das heißt auch, dass Zweidrittel woanders liegen. Man muss das Problem also insgesamt verstehen und nicht nur in einzelnen Kommunen wie Gelsenkirchen anpacken, in denen es sich besonders konzentriert. Wir haben uns seit Jahrzehnten damit arrangiert, dass bundesweit zwischen fünf und zehn Prozent der Kinder mit zu wenig Kompetenzen und ohne Abschluss die Schule verlassen. Das können wir uns angesichts der demografischen Situation nicht mehr leisten. Die fehlenden Abschlüsse sind nicht mehr nur ein Problem von fehlender Bildungsgerechtigkeit. Es geht jetzt darum, dass wir den Laden, dass wir das Land am Laufen halten.