Gelsenkirchen. Mit „Argus-Augen“: Künstliche Intelligenz aus Gelsenkirchen revolutioniert Lagebeurteilung für Retter bei Katastrophen wie großen Waldbränden.

Albtraumhafte Bilder von griechischen Ferieninseln wie Rhodos erreichen uns gerade täglich. Feuerstürme dort vernichten ganze Landstriche, gut 20.000 Menschen wurden evakuiert, darunter viele Tausend Urlauber. An der Westfälischen Hochschule (WH) in Gelsenkirchen ist jetzt in einer Kooperation eine Künstliche Intelligenz (KI) entwickelt worden, die die Arbeit von Feuerwehren und Rettungskräften bei der Lagebewertung um ein Vielfaches beschleunigen und lebensbedrohliche Flächenbrände früher erkennen können soll.

Gelsenkirchener KI-Experte: Katastrophenschutz in „nie dagewesener Präzision“

Der Clou an der Web-App „Argus": „Quadratkilometer große Flächen lassen sich mit Geschwadern handelsüblicher Drohnen überwachen, riesige Mengen an Daten, vor allem Bilder, dank der künstlichen Intelligenz wesentlich schneller auswerten, als menschliche Helfer dazu imstande sind“, sagt Prof. Hartmut Surmann von der WH Gelsenkirchen.

Das Forschungsteam der Westfälischen Hochschule: Prof. Dr. Hartmut Surmann (vorne) und sein Team bei einer Übung der Feuerwehr.
Das Forschungsteam der Westfälischen Hochschule: Prof. Dr. Hartmut Surmann (vorne) und sein Team bei einer Übung der Feuerwehr. © Foto: Hartmut Surmann

Der Name Argus ist übrigens nicht an den Namen des 100-äugigen Riesen aus der griechischen Mythologie angelehnt, sondern steht für Aerial Rescue and Geospatial Utility System, für Luftrettungs- und Geoinformationssystem.

Der Zeitfaktor ist bei (sich anbahnenden) Katastrophen entscheidend. Die Piloten-Teams der Feuerwehren beispielsweise flögen bei der Aufklärung in etwa 100 Metern Höhe und mit einer Geschwindigkeit von einem Meter pro Sekunde (entspricht 3,6 Stundenkilometern), erklärt der IT-Spezialist weiter. Dazu liegt die Grenze bei der Auswertung von Bildern bei einem Menschen bei etwa maximal zehn Bildern pro Sekunde – Müdigkeit und Konzentrationsschwächen nicht mit eingerechnet, die Quote sinkt schnell mit der Zeit und mit der Datenflut.

Übernehmen Rechner und KI aber die Aufgaben, so „verzehnfacht sich die Flug- und verdreifacht sich in etwa die Analysegeschwindigkeit“, so Surmann weiter. Ohne Ausfallerscheinungen. „So können Rettungskräfte nicht nur schneller einen Überblick gewinnen, sondern die Lage auch mit einer bisher nicht dagewesenen Präzision erfassen.“ Denn das System bereitet die Daten für die Einsatzkräfte in Form von Lagekarten auf.

Auch auf der Kostenseite haben dem Dozenten nach KI und Drohne unübersehbare Vorteile. „Man braucht praktisch nur eine fliegende Handykamera wie sie die kleinen, nur 250 Gramm schweren Konsumentendrohnen längst besitzen.“ 30.000 Euro für die kiloschwere Spezialdrohne, wie sie etwa auch die Gelsenkirchener Feuerwehr besitzt, stehen da gerade einmal 400 bis 500 Euro gegenüber. Ganz zu schweigen von dem Kerosin für etwaige Aufklärungsflüge.

Training bei Einsätzen: Jahrhundertflut in Erftstadt – Großbrand in Essens Grüner Mitte

Ausschnitt aus der neuen Lagedarstellung. Zu sehen ist ein Infrarotbild eines Vegetationsbrandes in Viersen, im Hintergrund ist das korrespondierende RGB-Bild zu erkennen.
Ausschnitt aus der neuen Lagedarstellung. Zu sehen ist ein Infrarotbild eines Vegetationsbrandes in Viersen, im Hintergrund ist das korrespondierende RGB-Bild zu erkennen. © Hartmut Surmann/Westfälische Hochschule

Für das Training der KI sammelten die Forschenden in den vergangenen fünf Jahren gemeinsam mit den Kooperationspartnern, dem Deutschen Rettungsrobotik-Zentrum sowie den Feuerwehren Dortmund und Viersen, bei Übungen und Einsätzen vielfältige Datensätze. Diese wurden zum Trainieren der neuronalen Netze aufbereitet und ermöglichten die Klassifizierung von Feuer, Menschen und einer großen Bandbreite an Fahrzeugen, besonders aus der Vogelperspektive von Aufklärungs-Drohnen.

Unter anderem war das Forschenden-Team um Hartmut Surmann bei dem verheerenden Großbrand in der Essener Grünen Mitte im Einsatz. Damals verloren 128 Menschen ihr Zuhause. „In zehn Minuten haben wir vier Apartments durchflogen und ausgewertet“, erinnert sich der Professor. Dem mit viel Medieninteresse bedachten Roboter-Polizeihund „Spot“ versperrten dagegen „eingestürzte Treppen die Untersuchung oberer Etagen“.

Auch bei der Jahrhundertflut war Argus im Einsatz, und zwar in Erftstadt. Daran erinnert sich Surmann mit Stolz: „Wir haben von den Rettungsteams Applaus bekommen, dank der Drohnentechnik und der KI konnten wir sehr effizient und schnell direkt an der Abbruchkante im Ortsteil Blessem arbeiten.“

Video-Tipps dazu:

Eine Feuerwehrübung in Viersen, bei der die Drohne Luftaufnahmen gemacht hat. Die Übung ist Teil der Trainings der Künstlichen Intelligenz, damit sie künftig sich anbahnende Katastrophen wie große Waldbrände frühzeitig entdeckt.
Eine Feuerwehrübung in Viersen, bei der die Drohne Luftaufnahmen gemacht hat. Die Übung ist Teil der Trainings der Künstlichen Intelligenz, damit sie künftig sich anbahnende Katastrophen wie große Waldbrände frühzeitig entdeckt. © Foto: Hartmut Surmann

Die KI sowie die Anwendung stellen die Forschenden seit Juli als OpenSource System in einer ersten Version über die Plattform „github“ zur Verfügung. „Drohnen, die schon jetzt vielfältig bei Feuerwehren zum Einsatz kommen, können so noch zielgerichteter verwendet werden“, ist der Hochschullehrer sich sicher.

118.000 Hektar Wald im Juni durch Brände in der EU zerstört

Dank der jüngsten Regenfälle wird die Lage für die nächsten Tage in NRW zwar als beherrschbar eingestuft. Doch den Forstleuten ist noch das vergangene Jahr in unguter Erinnerung. 2022 gab es in NRW über 200 Waldbrände – mit teilweise verheerenden ökologischen und ökonomischen Folgen. Ein Hektar abgebrannter Kiefernwald kostet 10.000 Euro; die Wiederaufforstung ist da noch nicht eingerechnet.

Und im Juni 2023 erst waren in der EU 118.000 Hektar Land von Waldbränden betroffen – damit liegt das Waldbrandgeschehen deutlich über dem europäischen Durchschnitt der vergangenen 17 Jahre. Nicht zuletzt deshalb ist gerade erst der neue Star der Feuerwehr NRW in den Dienst gestellt worden - der „Fire Fighter“ – ein 120.000 Euro teurer Aufsatz für herkömmliche Forstfahrzeuge, der 10.000 Liter Wasser fassen und bis zu 47 Meter weit schießen kann. Binnen sieben Minuten kann er sich an jedem Löschwasserteich vollsaugen. Wenn es irgendwo in den NRW-Wäldern brennt, soll der neue „Fire Fighter“ landesweit innerhalb von sechs Stunden der örtlichen Feuerwehr zu Diensten sein.

Aktuell bietet die Software neben der beschriebenen KI und dem Erstellen von Übersichtskarten viele weitere Funktionen, wie beispielsweise das Auslesen von Temperaturen aus Infrarot-Bildern, das interaktive Erkunden von 360-Grad-Fotos, sowie die Möglichkeit, Vorher-Nachher-Vergleiche der Einsatzstelle mit Satellitenbildern zu betrachten. Darüber hinaus lag ein weiteres Augenmerk auf einer möglichst einfachen Bedienung, weil die Systeme nicht nur von Fachleuten, sondern auch durch Einsatzkräfte nutzbar sein sollen.

Lernen wie mit Kinder-Bilderbuch, damit KI Brände und Menschen entdeckt

Und wie bringt man einer künstlichen Intelligenz bei, wie ein Feuer aussieht, wie ein Mensch, ein Fahrzeug, ein Haus? „Das passiert in etwas so, wie eine Mutter ihrem Kind es beibringen würde“, setzt Prof. Hartmut Surmann zu einem laienfreundlichen Erklärungsversuch an. „Sie zeigt dem Kind in einem Buch Bilder. Das ist ein Auto, das ist ein Haus, das ist ein Hund.“ Das Kind merkt sich das, die KI verfährt ähnlich. Der zu Grunde liegende Datensatz für die Flächenbranderkennung umfasst mehr als 30 Gigabyte, sie lernt künftig aber noch dazu.

Zur Einordnung. Mit einem Datenvolumen von 30 GB kann man 30 Stunden Netflix in hoher Qualität sehen oder bis zu 500 Stunden durchgehend die neuesten Spotify-Alben streamen.