Gelsenkirchen. Wo Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin mehr Engagement der Bürger wünscht und welche Themen für die Zukunft der Stadt entscheidend seien.

Seit rund zweieinhalb Jahren ist Karin Welge (SPD) Oberbürgermeisterin Gelsenkirchens. Zur Hälfte ihrer Amtszeit blickt die 60-Jährige im Gespräch mit der WAZ zurück auf die Zeit seit ihrer Amtsübernahme und auf die Herausforderungen, vor denen die Stadt steht. Ganz oben stehen dabei die Themen Integration, Schulen und Stadtumbau. Warum Welge dabei auch auf mehr Engagement der Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener setzt.

WAZ: Frau Welge, was kommt bei Ihnen so an, was beschäftigt die Bürger in der Stadt Ihrer Meinung nach besonders?

Karin Welge: Das ist ganz unterschiedlich, häufig sind es vor allem auch die vielen kleinen alltäglichen Probleme: Mal geht es um einen Bürgersteig, mal um eine Ampel, mal um die Pflege einer Grünanlage. Dann gibt es die Fälle, in denen ein Nachbar den anderen nicht mag...

WAZ: Das sind die vielen Einzelfälle, aber es wird doch sicherlich Themen geben, mit denen sie häufiger konfrontiert werden?

Welge: Klar, Sie berichten ja auch häufig darüber. Also über Fragen wie: Wie gehen wir mit Zuwanderung um? Was sind Lösungsansätze für bestimmte negative Begleiterscheinungen, die es gibt? Wie gelingen Integrationsprozesse? Politische Umfragen zeigen, dass es offenbar eine Grundangst vieler Menschen gibt. Das nehme ich ernst. Wir haben im Moment eine sehr ernste weltpolitische Lage. Außerdem kommen die Leute aus der Corona-Krise, in der sie sich fast weggesperrt fühlten. Die Menschen sind alle mit ihrem eigenen Schicksal extrem beschäftigt, und dann kommen ganz viele Dinge, mit denen sie zurecht nicht umgehen können. Und da gibt es keine einfachen Antworten.

WAZ: Heißt das, Sie haben kein Konzept, wie sie der wachsenden Sorge vor der „Überfremdung“ begegnen wollen?

Welge: Also, „Überfremdung“ ist ein schwieriges Wort. Für den gesellschaftspolitischen Frieden braucht es ein Grundgerüst und dafür habe ich Konzepte. Ich bin eine Freundin von klaren Strukturen, eine Freundin von klaren Regeln und Anweisungen. Also muss ich doch den Rahmen setzen, die Menschen überhaupt in die Lage zu versetzen, mitspielen zu können. Es muss eine gemeinsame Werte-Plattform geben, und es muss ein gemeinsames Verständnis von Gesellschaftspolitik geben. Wenn wir über Kinder und junge Menschen reden, die möglicherweise nicht ohne weiteres in die Lage versetzt werden können, ein eigenfinanziertes, gesellschaftspolitisch akzeptables Leben zu führen, dann glaube ich, werden wir nicht umhinkommen, dass es ein ganz anderes Schulsystem geben muss, um langfristig die Herausforderungen der Integration zu bewältigen. Wo wir Migrationsprozesse in überproportionalem Ausmaß haben, müssen passgenaue Lösungen her. Gelsenkirchen sollte dafür Modellstadt für ganz Deutschland werden.

WAZ: Ein neues, an die lokale Realität angepasstes Schulmodell zu entwickeln, können Sie als Oberbürgermeisterin logischerweise nur fordern, aber nun mal nicht umsetzen? Was wollen Sie denn mit Ihren städtischen Ressourcen bei der Integrationsfrage tun?

Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD) in ihrem Büro in der fünften Etage des Hans-Sachs-Hauses.
Gelsenkirchens Oberbürgermeisterin Karin Welge (SPD) in ihrem Büro in der fünften Etage des Hans-Sachs-Hauses. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Welge: Gerade im Schulbaubereich werden wir eine ganze Menge tun. Wir werden in den nächsten zehn Jahren rund eine Milliarde Euro in den Bau unserer Bildungs- und Sportinfrastruktur stecken. Das ist das größte Investitionsprogramm der letzten Jahrzehnte. Und das ist am Ende eben nicht nur eine Investition in Gebäude, sondern gerade, was den Bildungscampus angeht, eine Investition in gelingende Bildungsbiografien junger Menschen und damit in Integration in Stadtgesellschaft. Abgesehen davon arbeiten wir an einem Konzept, das wir in Kürze vorstellen werden. Darin geht es um die Frage, wie wir in den Quartieren jenseits der kommunal-ordnungspolitischen Maßnahmen, also etwa dem Einsatz des Ordnungsdienstes, auch mit sozialpolitischen Maßnahmen etwas bewirken können. Meine Sorge, die bleibt, ist nur: Sagt der Großteil der Bevölkerung ,ja, das ist der richtige Weg, wir gehen mit’? Oder flüchten sich die Menschen in vermeintlich einfache und populistische Lösungsversprechen? Dazu möchte ich aber eines deutlich sagen: Es ist ein Glücksgefühl, einen Menschen dabei zu unterstützen sich zu entwickeln. Die meisten Menschen empfinden nur kurz Glück, wenn sie sich beispielsweise etwas kaufen. Das Gefühl, einem anderen Menschen echt geholfen zu haben, das trägt viel intensiver und nachhaltiger. Da kann die Oberbürgermeisterin versuchen, Vorbild zu sein, aber da bin ich nur einer von 270.000 Menschen in der Stadt. Und das Gelingen hängt davon ab, wie viele mitziehen und wie viele den Glauben haben, dass uns die positive Entwicklung der Stadt gelingt.

WAZ: Nun, wir sind jedenfalls gespannt auf das Integrationskonzept, das Sie erarbeiten. Sie sprachen von Gelsenkirchen als „Modellstadt“, in der es so viele Schulen gibt, das entsprechend kleinere Klassen gebildet werden können und so viele Lehrer da sind, dass man den Kindern mit ihren höchst unterschiedlichen Bedarfen gerecht werden kann. Wo sollen eigentlich die Lehrer herkommen, die stehen ja nicht gerade Schlange, um hier zu arbeiten?

Welge: Lehrer können sich aussuchen, an welcher Schule sie arbeiten. Dafür habe ich natürlich großes Verständnis. Aber wenn ich Landesbediensteter bin und ich habe eine öffentliche Aufgabe, dann stelle ich mir manchmal die Frage, wie viel Gemeinwohlsinn muss damit verbunden sein. Und ich habe schon die Erwartung, dass dort, wo besonders viele Kinder beschult werden müssen, deren Eltern nicht deutsch sprechen, auch entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen werden. Darüber spreche ich auch intensiv mit NRW-Bildungsministerin Dorothee Feller (CDU). Wir als Kommune haben unmittelbar nur den Zustand der Gebäude und die Verwaltungsausstattung in der Hand. Mit dem bereits angesprochenen Investitionsprogramm werden wir dafür sorgen, dass das Lehrpersonal, das sich für Gelsenkirchen entscheidet, eine bestmögliche Lernumgebung vorfindet. Dieser Gemeinwohlsinn fehlt mir manchmal aber auch in Teilen der Bevölkerung. Ich glaube schon, dass sich auch die Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener die Frage stellen müssen: Was kann denn mein eigener Beitrag für die Stadt sein?

WAZ: Also tun die Gelsenkirchener zu wenig für ihre Stadt?

Welge (schmunzelt): Das ist eine provokante Ableitung meiner Aussage. Ich sehe durch unzählige Termine jeden Tag, wie viel Bürgerinnen und Bürger für ihre Vereine, ihre Nachbarschaft und damit für die Stadt tun. Ich glaube aber, noch nicht jeder Gelsenkirchener, das würde ich für die Essener oder andere genauso sagen, ist überzeugt davon, dass man auch selbst immer ein Stückchen mehr, einen kleinen Beitrag leisten kann. Und sei es auch nur, dass ich ein bisschen offensiver meinem Nachbarn gegenüber bin. Der Staat wird nicht alles leisten können. Deswegen sollten wir doch wirklich überlegen, wie kriegen wir das gemeinsam hin? Und noch mal: Nein, das ist kein Gelsenkirchener Phänomen, das beziehe ich genauso auf jede andere Stadt.

WAZ: Modellstadt könnte Gelsenkirchen auch mit der „Zukunftspartnerschaft“ werden, die Sie mit Land und Bund eingegangen sind. Das Programm sieht – wie berichtet – vor, dass Gelsenkirchen bis 2032 100 Millionen Euro bekommt, um Schrottimmobilien vom Markt zu nehmen und Quartiere neu zu gestalten. Wie ist der Stand?

Welge: Wir haben in den ersten Monaten der Zukunftspartnerschaft schon die ersten Häuser gekauft und für Investitionen in Höhe von 19 Millionen mit über 400 Wohneinheiten stehen wir derzeit in konkreten Gesprächen. Es geht aber ja nicht nur um den Abriss von Schrottimmobilien. Wir können uns an jedem Ort, den wir uns da vornehmen, noch mal überlegen, was ist die richtige und sinnvolle Quartierentwicklung? Und das Besondere an diesem Programm ist ja, dass wir uns jenseits der Städtebauförderregularien bewegen können. Das ist schon einmalig und ebenfalls von großer Bedeutung bei der Frage nach gelingenden Integrationsprozessen und bei der Frage nach einem lebenswerten Umfeld – auch für neue Lehrer beispielsweise.