Essen. Konfliktforscher: Migration wird als ungelöstes Problem gesehen, das erzeugt Ängste. Zuwanderung in die Städte muss gerechter gesteuert werden.

Die wachsende Zuwanderung ist für Menschen in NRW derzeit die größte politische Herausforderung. Die Sorgen um die Folgen der Migration haben die Furcht vor Gefahren für die Energiesicherheit und Inflation abgelöst, die noch im Herbst 2022 als das drängendste Probleme genannt wurden. Dies ist ein Ergebnis des großen „NRW-Checks“, für den im Auftrag der WAZ und 38 weiteren Tageszeitungen in NRW Anfang Juni mehr als 1500 Menschen befragt wurden.

Über die Gründe für diesen Trend sprach Christopher Onkelbach mit Prof. Andreas Zick. Der Sozialpsychologe ist Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld.

Warum nehmen die Menschen in NRW die Zuwanderung erneut als so bedrohlich wahr?

Andreas Zick: Das Thema wird in Politik und Medien als ungelöstes deutsches und europäisches Problem diskutiert. Die Debatten um eine Zuwanderung, die eher als unkontrolliert bezeichnet wird, erzeugen Befürchtungen, und diese verstellen dann die Wahrnehmung der Realität. Zuwanderung und Flucht sind für viele Menschen mit emotional belastenden Bildern von Toten im Meer, von leidenden Menschen auf der Flucht und der Befürchtung verbunden, mit den Anforderungen der Integration nicht klarzukommen. Einwanderung ist also immer noch ein Thema, das eher mit Belastungen verbunden ist und weniger mit Chancen, wie es die Wirtschaft immer wieder betont.

Prof. Andreas Zick, der Sozialpsychologe, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld: Viele Menschen sehen sich durch die Zuwanderung überfordert.
Prof. Andreas Zick, der Sozialpsychologe, Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld: Viele Menschen sehen sich durch die Zuwanderung überfordert. © Uni Bielefeld

Im NRW-Check meinen 73 Prozent der Befragten, Städte und Kommunen seien mit der hohen Zahl der Flüchtlinge überfordert. Wie erklärt sich dieser hohe Wert?

Es ist das, was die Städte und Kommunen den Menschen vermitteln und was vielerorts ja auch stimmt. Im Alltag schreiben die Menschen die Überforderung jedoch den Geflüchteten, den Asylsuchenden und Zuwanderern zu: Sie sind das Problem. Wir schreiben es nicht den bislang nicht hinreichend stabilen Strukturen und Kapazitäten von Städten und Kommunen zu. Es wäre gut, wenn überlastete Städte Pläne entwickelten, welche Möglichkeiten sie haben und was sie leisten können und die Politik ein Fördersystem für jene einrichtet, die mehr Lasten tragen. Dann wäre ein Mechanismus geregelter Migration bis in die einzelne Kommune hinein möglich. So könnte Zuwanderung reguliert werden, dass sie ein Gewinn ist, wie wir es in NRW in der Vergangenheit ja schon mehrfach erlebt haben.

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Zugleich geben aber 50 Prozent der NRW-Bürger an, in ihrer eigenen Stadt gebe es keine größeren Probleme bei der Unterbringung der Flüchtlinge – ist das ein Widerspruch?

Für viele Menschen ist es kein Widerspruch. Die Aussage macht deutlich, dass viele Menschen vielleicht eine vermutete Bedrohung für das gesamte Land meinen. Fragen wir in der Forschung genauer nach, wer bedroht wird – die Menschen selbst, ihre Familien, ihre Nachbarschaft, Freunde, die Stadt, das Land – dann richtet sich die Bedrohung mehr auf die gefühlte Gemeinschaft: Ich bin nicht bedroht, aber wir Deutsche. „Die bedrohen uns“ ist dann eine politische Äußerung, die Abgrenzung ermöglicht. Leider operiert der Populismus damit, denn die Bedrohung erzeugt das Ohnmachtsgefühl, das der Populismus braucht, um Einfluss zu nehmen.

Wieso ist das Thema Zuwanderung derzeit wieder so virulent?

Es ist ein ungelöstes Problem – und daran erinnern perfiderweise die Toten im Meer. Das führt aber nicht dazu, dass wir Solidarität üben, sondern uns abwenden vor Scham oder der Suche nach Schuldigen, die wir nicht sein möchten. Zweitens hat die Fluchtzuwanderung aus der Ukraine eine große Herausforderung bedeutet, sodass viele Menschen jetzt meinen, es ginge nichts mehr. Drittens stehen tatsächlich neue Migrationsbewegungen an, weil die Klimakatastrophe, Kriege und Konflikte weitere Fluchtbewegungen auslösen. Viertens ist es virulent, weil die Politik die Migration nun ernsthaft angehen will. Und fünftens, weil der Populismus und der Extremismus sehr erfolgreich Schreckensszenarien vermittelt haben. Das politische Geschäft mit Unsicherheitsmythen läuft gut.

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Wo genau liegen die Sorgen und Ängste der Bürger?

Es ist häufig die Sorge um Verluste. Die Forschung fragt daher vielfach danach, was eigentlich nach Meinung der Menschen verloren geht. Im Auslauf von Krisenzeiten wie der Coronapandemie sind es Verluste um Ressourcen, um Besitzstand und den Platz in der Gesellschaft. Viele Menschen denken, wenn Neue kommen, müssen sie etwas abgeben, dabei ist jetzt schon alles knapp. Hinzu kommen Ängste um den Verlust von Identität und Kultur. Die Sorgen lösen sich oft auf, wenn es Kontakte und Erfahrungen gibt.

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Welches Konfliktpotenzial sehen Sie?

Mit Blick auf die Demokratie, die Spaltung der Gesellschaft und das soziale Klima ist das Konfliktpotenzial hoch. Wir hatten selbst in der Coronapandemie einen Anstieg an Hasstaten. Der Rechtsextremismus ist in der Mitte der Gesellschaft fest verankert und schürt dort Hass und Wut. Der öffentliche Ton der Debatten, die für die Demokratie notwendig sind – ich denke an die Diskussion um Heizungen, Klimapolitik, Militärausgaben und so fort – wird persönlich angreifender.

Aber es gibt doch auch schlechte Erfahrungen mit Zuwanderung…

Schauen wir uns um. Wir sind in NRW migrantisch, wir waren es immer und es ist Normalität. Unsere Aufmerksamkeit liegt viel zu stark auf der Problemseite: In unserer Studie zur Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit haben wir schon 2019 ermittelt, dass mehr Menschen trotz eines guten und harmonischen Zusammenlebens die Migration als Konfliktthema sehen. Die positiven Effekte der Zuwanderung werden leicht ausgeblendet. Gerade die Menschen in NRW hätten den Strukturwandel aber kaum geschafft ohne ihre Integrationskraft und Vielfalt.

Wie deuten Sie den aktuellen Höhenflug der AfD?

Das hat viele Gründe. Die These, dass der Streit in der Ampel verantwortlich ist, erklärt nur einen kleinen Teil. Die AfD hat Gefühle und Emotionen zum politischen Programm erklärt. Sie hat Menschen erfolgreich vermittelt, dass sie eine Widerstandsbewegung sind. Sie haben die Ressentiments gegen viele Gruppen in der Gesellschaft unter sich versammelt. Sie haben eine „Identitätspolitik des Deutschseins“ angeboten, die viele Menschen gut finden. Sie haben die Sprachlosigkeit vieler etablierter Parteien, auch von Medien und Wissenschaftlern, genutzt. Sie haben Menschen, die Wut äußern und eine völkisch gestaltete Gesellschaft möchten, als Opfer veredelt. In Krisenzeiten gewinnen immer Rechtspopulismus und ausgrenzende Politikvorstellungen.

Wie sollten demokratische Parteien auf diese Entwicklungen reagieren?

Alle Studien – und das weiß die Politik – zeigen: Wer versucht, den Populismus zu kopieren, um Menschen vom Rand zurückzuholen, scheitert. Parteien sollten beginnen, Leitbilder der Gesellschaft zu formulieren, die Hoffnung machen. Sie müssen vorleben, wie konstruktive Konfliktlösungen im Streit funktionieren. Sie sollten jene stärken, die Hass und Gewalt sichtbar machen. Sie sollten zeigen, warum eine populistische Lösung immer instabil ist. Parteien sind aber nicht alles in einer Demokratie. Auch die Zivilgesellschaft, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sind gefordert.

Viele Zugewanderte bewerten das Zusammenleben in NRW laut Integrationsbarometer positiv. Ist die Lage also besser als sie oft dargestellt wird?

Ich hoffe das. Vielleicht ist NRW widerstandsfähiger und lässt sich nicht so leicht von kurzfristigen politischen Luftblasen beeinflussen, weil die Menschen hier ein gutes Zusammenleben wünschen. Ein Motto des Ruhrgebiets ist: Woanders ist es auch scheiße. Wissenschaftlich betrachtet ist das nicht schlecht. Denn: Wenn es woanders auch nicht gut läuft, dann muss ich die anderen nicht abwerten und kann versuchen, ganz pragmatisch das Beste aus dem zu machen, was hier ist. NRW braucht eben keine Luftschlösser, sondern Zechen mit Kletterwand – und genau die hat es ja.

>>>>Zur Person:

Professor Andreas Zick (60) ist im Juni in den Expertenrat Antirassismus der Bundesregierung berufen worden. Dem Gremium gehören zwölf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an. Sie entwickeln für die Bundesregierung Empfehlungen zum Umgang mit Rassismus in zentralen gesellschaftlichen Bereichen und Institutionen, um frühzeitig rassistische Diskriminierungen zu verhindern. Der Rat hat am 19. Juni die Arbeit aufgenommen.

Zick ist seit 2013 Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld und Professor für Sozialisation und Konfliktforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft.