Gelsenkirchen. Kinder und Jugendliche, die Jahre nicht in der Schule waren, keine Freunde, aber viele Ängste haben: Diese Tagesklinik in Gelsenkirchen hilft.

  • Freizeit an der Konsole statt mit Freunden lässt Kinder vereinsamen
  • Gewalterfahrungen, Verhaltensstörungen und Ängste nehmen weiter zu
  • Tagesklinik bietet ein Rundum-Unterstützungspaket mit Eltern, Schule und sozialen Diensten

Vor 25 Jahren startete die Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie als erste ihrer Art in Gelsenkirchen. Kinder mit Verhaltensstörungen, depressiven Phasen oder Ängsten fanden hier erstmals eine Anlaufstelle, in der man sich ganztägig um die Kinder und Heranwachsenden kümmerte, immer aber unter intensiver Einbindung der Eltern, die mehrmals die Woche an Gesprächen und Therapien teilnehmen. Das Besondere und Neue an der Einrichtung war, dass Kinder und Eltern weiterhin daheim leben, Nächte und Wochenenden im gewohnten Umfeld verbringen können. Es war die erste „gemeindenahe Versorgung“ von Kindern und Jugendlichen in der Stadt.

Fachärztin für Jugendpsychiatrie in Gelsenkirchen: „Ohne die Eltern wird das nichts!“

Noch heute wird hier als Tagesklinik therapiert. Fünf Tage die Woche von acht bis 16 Uhr, verbringen die Kinder in der Klinik. Die Eltern sind – wenn möglich – zwei bis dreimal je Woche dabei, um an Familiengesprächen und Gruppentherapien teilzunehmen. „Wir arbeiten bindungs- und beziehungsorientiert“, erklärt die Leiterin der Tagesklinik, Dr. Marion Kolb. Es gehe nicht darum, Eltern oder Kinder zu „erziehen“, sondern sie in der sozialen Entwicklung und dem Beziehungsaufbau zu unterstützen. „Ohne die Eltern wird das nichts“, betont Kolb. „Es geht um Selbstwirksamkeit.“

Dr. med. Marion Kolb ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und leitet die Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Bergmannsheil in Gelsenkirchen.
Dr. med. Marion Kolb ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie und leitet die Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Bergmannsheil in Gelsenkirchen. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

Mit zwölf Betten war die Klinik 1998 gestartet, von später 18 wurde in der Corona-Zeit aufgrund des extrem hohen Bedarfes auf 24 aufgestockt. Allerdings hat sich seit der Gründung – dereinst noch in Westerholt, wo auch die Kinderklinik beheimatet war – nicht allein die Bettenzahl verändert. Das Team ist heute multiprofessionell aufgestellt. Nach eingehender Leistungs-, Störungs- und psychotherapeutischer Diagnostik gibt es Einzel-, Familien- und Gruppentherapien, tiergestützte Therapie mit drei ausgebildeten Hunden, deren Frauchen zum Profi-Team gehören, Gesprächs-, Verhaltens-, Ergo- und Kunsttherapie.

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Zu den Therapieformen gehört soziales Kompetenztraining ebenso wie familiensystemische Therapie, Hausbesuche, Absprachen mit den Schulen und Rückführung von Schulverweigerern, Entspannungstraining. Bei Bedarf wird die Therapie auch durch Medikamente gestützt. Zu den behandelten Störungen zählen auch depressive Störungen, Zwänge, Essstörungen, Selbstverletzungen, Einnässen/Einkoten, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens und Traumafolgestörungen.

„Verändert hat sich in den letzten Jahren vor allem auch das Leben der Kinder und der Familien“, weiß die ärztliche Leiterin der Klinik. Eltern, die mehr auf das Smartphone schauen als ihrem Kleinkind im Kinderwagen in die Augen, würden wichtige Chancen zum Beziehungsaufbau verpassen, warnt sie. Die soziale Armut in Gelsenkirchen ist in den letzten Jahren gewachsen und mit ihr die Probleme der Familien. Fehlende Außenkontakte aufgrund eingeschränkter finanzieller Möglichkeiten, unkontrollierter, viel zu starker Medienkonsum: „Das wirkt sich aus. Auf die Aufmerksamkeitsspanne und die motorische Entwicklung der Heranwachsenden und auch auf die sozialen Kontakte.“

Zu viel Zeit am Computer und Konsole mit verheerenden Folgen

Durch den hohen Medienkonsum verringerten sich echte soziale Kontakte. „Depressive Symptome sowie die Angst vor dem Schulbesuch und möglichem Mobbing können so noch verstärkt werden“, so Kolb. „Die Situation wird schlimmer, Corona hat den Prozess beschleunigt und zugespitzt – insbesondere bei den ohnehin schon angeschlagenen Familien.“ Die Not der Kinder und ihrer Familien sei ausgesprochen hoch, der Unterstützungsbedarf immens“. Lesen Sie dazu: Wie schädlich ist medialer Konsum?

Der ausgebildete Therapiehund Bruno, ein Berner Sennenhund, sorgt bei den jungen Patienten in der Tagesklinik für Glückshormone beim Streicheln. Auch das Nachfüllen des Trinknapfs gehört zum Programm.
Der ausgebildete Therapiehund Bruno, ein Berner Sennenhund, sorgt bei den jungen Patienten in der Tagesklinik für Glückshormone beim Streicheln. Auch das Nachfüllen des Trinknapfs gehört zum Programm. © FUNKE Foto Services | Thomas Gödde

In der Regel bleiben die Patienten sechs Wochen in der Tagesklinik. Bei schweren Fällen wie chronischen Schulverweigerern mit depressiver Symptomatik und sozialen Phobien, die zum Teil seit drei Jahren nicht in der Schule waren, dauert es auch mal vier Monate. In der Klinik helfe man den Jugendlichen, ihre Ängste schrittweise zu bewältigen, wieder soziale Kontakte aufzubauen und ihnen eine schulische Perspektive zu eröffnen. „Ein Kind ohne Bildung ist ein Mensch ohne Zukunft“, betont Kolb. Aber: „Die Therapie ist nicht beendet, wenn die Kinder und Jugendlichen die Klinik verlassen. Sie brauchen eine weitere psychotherapeutische Begleitung. Und da die nicht immer leicht zu bekommen ist, helfen wir dabei“, berichtet Kolb.

Austausch mit Schulen, Sozialdienst und Jugendamt

„Bei der weiteren Begleitung geht es aber nicht nur um Therapeuten. Auch das Jugendamt und der Sozialdienst Schule sind ständige Ansprechpartner für uns. Es gibt runde Tische mit Jugendamt und Familienhelfern, um die Familien auch nach der Klinikphase zu stabilisieren“, berichtet Kolb. Gerade beim Jugendamt sei die Personalnot aber besonders spürbar, zudem gebe es viel Personalwechsel. Die Mitarbeiter dort seien sehr engagiert, aber überlastet, weiß man in der Klinik.

Dabei ist der Kontakt zum Jugendamt wichtig – und wird immer wichtiger angesichts der Schwere der zu therapierenden Fälle. Zuletzt habe es mehrere Heranwachsende gegeben, die Missbrauch und Gewalt in der Familie geschildert hätten.

Alle ärztlichen Stellen sind besetzt

Das ärztliche und therapeutische Team der Tagesklinik ist laut Stellenplan gut besetzt: mit vier Fachärztinnen (3,3 Stellen) und einem leitenden Psychologen in Vollzeit plus einem 10- bis 12-köpfigen Therapeutenteam verschiedenster Ausrichtung. Marion Kolb hat eine Weiterbildungsermächtigung für Assistenzärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapeuten in Ausbildung; manche Fachkraft ist danach schon im Haus geblieben, wie etwa die Psychologin Nora Midik, die auch einen der Therapiehunde besitzt. Knapper besetzt ist man in der Tagesklinik allerdings im pflegerischen Bereich.

Die drei Gruppen je acht Patienten sind nach Altersgruppen und Störungsbild zusammengesetzt. Eine Gruppe ist Vor- und Grundschulkindern vorbehalten, eine elf- bis 15-jährigen Jugendlichen, in der dritten werden Kinder und Jugendliche bis 18 Jahren mit komplexeren und chronifizierten Störungen betreut, die häufig erhebliche Ängste haben und mehr Ruhe brauchen. Das trifft zum Beispiel auf Patienten mit autistischen Beeinträchtigungen zu. Diese Gruppe ist auch räumlich getrennt untergebracht.

Für die Behandlung in der Tagesklinik, die dank Aufstockung in der Regel „nur“ noch Wartezeiten von drei oder vier Monaten für einen Therapieplatz hat, bedarf es einer Überweisung durch einen niedergelassenen Kinder- und Jugendpsychiater. Falls ein solcher nicht rechtzeitig gefunden wurde, ist laut Klinik der Umweg über eine Überweisung des Kinderarztes an das Sozialpädiatrische Zentrum an der Kinder- und Jugendklinik nötig.

Informationen rund um die Tagesklinik und den Zugang gibt es unter www.kjkge.de oder auf Anfrage per E-Mail an tagesklinik@kjkge.de sowie telefonisch unter 0209 369-364.