Gelsenkirchen-Buer. Warum die Gelsenkirchener Kinderklinik Therapeuten auf vier Pfoten einsetzt. Und wie die psychisch kranken Patienten reagieren.
Eine Hand zum Drücken, Festhalten, Trösten: Nicht jedes Kind, nicht jeder Jugendliche kann zu Hause danach greifen. Pfoten können diesen familiären Rückhalt zwar nicht ersetzen, aber entsprechend ausgebildete Hunde helfen, eine aus den Fugen geratene Welt ein bisschen zu sortieren. Darauf setzt, als eine der wenigen in der Region, die Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie im Bergmannsheil – und so hat ein Teil des Therapeuten-Teams dort vier Beine und ein kuschelweiches Fell.
Ein aufmerksamer Blick aus Lokis hell schimmernden Augen, während er den Kopf schief legt: Es dauert zumeist nur wenige Augenblicke, schon hat der schwarz-braun-weiß gescheckte Australian-Sheperd-Mix Beute gemacht, emotional, versteht sich. Silke Runau, Stationsleitung und Lokis Halterin, lacht: Sie weiß um den Charme ihres dreieinhalbjährigen Hundes; sie selbst erliegt ihm ja auch täglich. Kein Wunder, dass es den jungen Patientinnen und Patienten zwischen fünf und 18 Jahren in aller Regel genauso geht.
Gelsenkirchener Therapiehund Loki wirkt in Familiengesprächen oft wie ein „Eisbrecher“
„Ja, unsere Therapiehunde funktionieren im Umgang mit anderen Menschen oft wie ein Eisbrecher“, bringt die leitende Ärztin Dr. Marion Kolb die Wirkung von Loki auf den Punkt. Deren vierbeinige Kollegen Bruno und Linus, ein brauner Berner Sennenhund und ein weißer West Highland White Terrier, stehen ihm da in nichts nach.
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Was vor zwölf Jahren mit Fischen im raumgreifenden Aquarium begann und mit Besuchen bei besonders geschulten Pferden fortgesetzt wurde, praktiziert die Tagesklinik seither vor Ort mit Hunden: „Wir setzen die tiergestützte Therapie als einen Baustein etwa bei depressiven, traumatisierten Kindern und Jugendlichen ein oder bei solchen mit Störungen des Sozialverhaltens oder massiven Bindungs- und Beziehungsproblemen“, so die Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie.
Durch tiergestützte Therapie brauchen Patienten oft weniger Medikamente einzunehmen
Loki, Linus und Bruno haben, um sie nicht zu überfordern, jeweils maximal eine Stunde am Tag „Dienst“: Gemeinsam mit den Patienten bewältigen sie einen Parcours im großen Garten, lassen sich von ihnen Gassi führen oder nehmen an Familiengesprächen teil. „Das fördert den Konsens; alle Beteiligten verhalten sich viel entspannter, wenn ein Hund im Raum ist“, so Dr. Kolb.
Bei depressiven, ängstlichen Patienten mit Hang zum „Stubenhocken“ tragen die Hunde zur Aktivierung bei. „Hunde müssen raus, bei jedem Wetter. Und sie haben einen Spieltrieb. Wenn die Kinder und Jugendlichen mit einem Hund im Park Gassi gehen, bewegen sie sich freiwillig und werden viel fröhlicher. Die Sonnenstrahlen wirken sich ebenfalls positiv auf die Stimmung aus, sodass wir sehr häufig weniger Medikamente geben müssen.“
Parcours-Laufen mit Gelsenkirchener Hunden stärkt das Konzentrationsvermögen
Wie so vieles, ist auch das eine Frage der Chemie: „Der Anblick und der Umgang mit den Vierbeinern sorgen im Körper dafür, dass das Hormon Oxitocyn ausgestoßen wird. Das fördert die Bindung zum Gegenüber und macht glücklicher als Schokolade“, erläutert die Ärztin den Mechanismus.
Auch „kleine Hibbelköpfe“ profitierten von dem regelmäßigen Kontakt mit Loki, Bruno und Linus. Trainierten sie doch etwa beim Parcours ihr Konzentrationsvermögen, da sie sich die Abläufe merken müssten. Dabei gelte es, Blickkontakt zu dem Tier zu halten, dessen Signale wahrzunehmen und richtig zu deuten. „Das ist für viele Kinder und Jugendliche ein großes Selbstwirksamkeits-Erlebnis. Sie spüren, wie das, was sie tun, unmittelbare Folgen hat.“
Gelsenkirchener Therapiehunde wurden über mehrere Jahre speziell geschult
Dass die Vierbeiner dafür speziell geschult werden mussten, versteht sich von selbst. Geduld und Zurückhaltung auch mit herausfordernden Kindern sind schließlich nicht jedem ins Körbchen gelegt. Verspielt, freundlich und immer gut gelaunt wie Loki, gutmütig, loyal und ausgeglichen wie Bruno und ruhig, geduldig sowie alles verzeihend wie Linus: Derartige Charaktereigenschaften mögen angelegt sein, müssen aber trainiert und verfestigt werden, um die Tiere fit zu machen für schwierige Situationen – auch wenn immer ein Erwachsener dabei ist.
Finanziert vom Bergmannsheil, hat Frauchen Silke Runau mit Loki nicht nur eine Hundeschule besucht, sondern auch über mehrere Jahre eine zertifizierte therapeutische Ausbildung absolviert. Damit nicht nur sie als Fachkraft für Kinder- und Jugendpsychiatrie weiß, wie mit den jungen Patienten umzugehen ist.
„Wildfang“ Tim weiß: Gelsenkirchener Hund Loki beruhigt ihn
„Die Therapiehunde müssen mitunter schon einiges aushalten können“, so die 56-Jährige, die schon vor Loki Hunde hatte und von Dr. Kolb angesprochen wurde, ob sie sich vorstellen könne, einen Vierbeiner anzuschaffen, der eine entsprechende Ausbildung durchläuft. Sie konnte – und freut sich nun jeden Tag, wenn sie erlebt, dass den Kindern und Jugendlichen das Herz aufgeht beim Anblick des Australian-Sheperd-Mix.
Wie dem kleinen Tim (10, Name von der Redaktion geändert), der ein ziemlicher Wildfang ist, es aber sichtlich genießt, mit Loki im Garten der Tagesklinik einen Parcours zu bewältigen. Gehorsam springt das Tier über Hindernisse, folgt dem Jungen aufs Wort, und der strahlt, „weil Loki so lieb ist und mich immer so fröhlich macht.“ Obwohl seine Familie selbst zu Hause einen Schäferhund hat, ist er sicher: „Loki ist ein sehr spezieller Hund. Wenn ich mit ihm spiele, beruhige ich mich.“
Wem die Tagesklinik für Kinderpsychiatrie hilft
Die Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie in der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen richtet sich an Kinder und Jugendliche zwischen fünf und 18 Jahren sowie deren Eltern und Bezugspersonen. 24 Behandlungsplätze stehen zur Verfügung.
Behandelt werden Mädchen und Jungen etwa mit depressiven, Bindungs-, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, Selbstverletzungen, Schulproblemen und Schulvermeidung, Störungen des Sozialverhaltens, psychosomatischen Beschwerden und Traumata sowie deren Folgestörungen.
Die Behandlung erfolgt montags bis freitags, 7.30 bis 16 Uhr, und dauert ein bis vier Monate. Sie umfasst u.a. Einzel- und Gruppentherapie, soziales Kompetenztraining, Kunst-, Bewegungs-, tiergestützte Therapie, familiensystemische Behandlung sowie Schulrückführungen. Während der Behandlung erhalten die Patienten Unterricht durch die Städtische Schule für Kranke in der Kinderklinik. Kontakt: 0209 369-364 (tagesklinik@kjkge.de); Info:www.kjkge.de