Gelsenkirchen. Kinder und Jugendliche – die Verlierer der Pandemie? Die Nachfrage nach psychotherapeutischer Hilfe hat in Gelsenkirchen zugenommen. Die Gründe.
Kinderarmut – eines der drängendsten Probleme in Gelsenkirchen. Das war schon vor Corona so, die andauernde Pandemie hat, wie in vielen anderen Bereichen auch, die Zustände aber noch einmal verschärft. Vor allem sozioökonomisch schwächere Familien seien besonders stark von den Corona-Maßnahmen getroffen worden, so die Erfahrung von Dr. Marion Kolb. Wir trafen die leitende Ärztin der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen und sprachen mit ihr über die Folgen der Lockdowns, der Schulschließungen und der weggefallenen sozialen Kontakte gerade bei Kindern und Jugendlichen.
Frau Dr. Kolb, welche Beobachtungen haben Sie in den vergangenen Corona-Monaten gemacht?
Während der Pandemie ist die Nachfrage nach psychotherapeutischer Unterstützung von Kindern und Jugendlichen angestiegen. In unserer Tagesklinik sehen wir seither viel mehr instabile Patienten, die oft nicht mehr absprachefähig sind und akut suizidal werden, so dass wir sie kurzfristig in den geschützten vollstationären Rahmen verlegen müssen.
Das hatten wir vorher nur sehr selten. Wir sehen auch viele ängstlich-depressive Jugendliche oder auch hyperaktive, traumatisierte sowie bindungsgestörte kleinere Kinder. In anderen Kliniken, so berichten die Kollegen, werden im Moment mehr Patienten mit Ess- oder Zwangsstörungen, die sich während der Coronapandemie verschlimmert haben, behandelt.
Worunter leiden die Kinder und Jugendlichen konkret, welche Ängste und Krankheitsbilder haben sie?
Die Kinder haben oft schon bestehende soziale Ängste und Phobien, sie haben beispielsweise Angst vor fremden Menschen oder Angst vor Mitschülern, die sie nicht kennen, sie haben Angst sich zu melden, alleine Bus zu fahren, etc. Während des Lockdowns haben sich viele sozial noch mehr zurückgezogen, haben sich häufig auch nicht mehr beim Online-Unterricht beteiligt und hatten kein soziales Übungsfeld mehr, so dass sich Angststörungen und auch andere Erkrankungen häufig verschlimmert haben und chronifiziert sind.
Häufig sieht man bei den ängstlich-sozialphobischen Patienten auch gleichzeitig eine depressive Entwicklung.
Bei vielen, vor allem jüngeren Kindern, haben sich während der Pandemie auch motorische Defizite verstärkt. Kinder und Jugendliche haben sich während des Lockdowns oft gar nicht mehr bewegt, saßen nur noch vor irgendwelchen Medien, sind nicht mehr rausgekommen, konnten nicht schwimmen lernen, haben an Gewicht zugenommen. Es gibt kaum ein Kind in der Tagesklinik, das wir nicht auch motorisch fördern und aktivieren müssten.
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Was sind Ihrer Meinung nach die Gründe für die große Nachfrage bei Ihnen?
Die derzeitige Nachfrage zeigt, dass es noch eine hohe Instabilität bei den Familien und den Patienten gibt. Der Grund ist, dass die Familien nach dieser langen Zeit oft keine Energien und Ressourcen mehr aufweisen. Sportvereine, Schulen, soziale Kontakte wurden eingeschränkt, es war eine Zeit, in der viele Kinder und Jugendliche wirklich gelitten haben. Bereits bestehende psychische Belastungen konnten in dieser Zeit oft nicht mehr kompensiert werden.
Welche Kinder, Jugendlichen und Familien kommen in die Tagesklinik?
Wir behandeln alle Kinder und Jugendlichen im Alter von fünf bis 18 Jahren mit kinder- und jugendpsychiatrischen Störungsbildern. Die Familienstrukturen sind sehr unterschiedlich. In Gelsenkirchen gibt es natürlich viele sozioökonomisch schwache Familien, getrennte Eltern und alleinerziehende Mütter. Wir haben hier in der Tagesklinik aber auch genauso verheiratete Eltern und behandeln Kinder und Jugendliche, die das Gymnasium besuchen.
Gelsenkirchen ist eine der ärmsten Städte Deutschlands – inwieweit wirkt sich dieser Faktor aus?
Der sozioökonomische Status oder Armut ist ein Risikofaktor, der das Entstehen von psychischen Erkrankungen begünstigt. Die Familien, die zu uns kommen, haben oft viele Risikofaktoren gleichzeitig. Wer psychisch belastet ist, wird auch oft körperlich krank. Und umgekehrt. Wir haben auch viele Kinder bei uns in kinder- und jugendpsychiatrischer Behandlung, die gleichzeitig körperliche Begleiterkrankungen, wie Diabetes, Bluthochdruck, Übergewicht haben.
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Welche Konflikte und Probleme sind Ihrer Erfahrung nach während der Lockdowns gerade in den sozialschwachen Familien aufgetreten?
Viele dieser Familien leben in beengten Wohnverhältnissen ohne Garten, so dass Konflikte untereinander während des Lockdowns häufig eskaliert sind. Eltern waren während dieser Zeit bisweilen in Kurzarbeit oder haben gar ihren Job verloren, was auch für die Kinder sehr belastend war. Aufgrund der Arbeits- und Wohnverhältnisse sind die Familien teilweise auch einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt gewesen. Wir hatten hier Kinder und Jugendliche in der Tagesklinik, die selbst an Covid-19 erkrankt waren. Manche haben einen Elternteil aufgrund einer Covid-19-Infektion verloren.
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Wenn Sie in die Zukunft blicken – könnte die Pandemie dann weitere, schwerwiegende Folgen haben?
Keiner kann in die Zukunft gucken, dazu bräuchte es Studien, die einen langen Zeitraum erfassen. Es kann derzeit niemand abschätzen, inwieweit die Kinder und Jugendlichen die Pandemie und ihre Folgen kompensieren können. Ich glaube, dass Kinder sich sehr schnell an Dinge und an Umstände gewöhnen, sich auch anpassen und schnell Entwicklungsdefizite ausgleichen können, wenn sie wieder in einem entsprechenden Umfeld oder Rahmen sind.
Kinder brauchen Zuwendung, Verlässlichkeit, Struktur, soziale Kontakte. Wenn das gegeben ist, können sie auch ganz viel wieder aufholen. Und ihnen geht es dann gut, wenn es den Eltern gut geht.
Was ist Ihr Plädoyer, Ihr Wunsch, vor dem hoffentlich letzten schwierigen Corona-Winter?
Dass man die sozialschwachen Familien besonders unterstützt und auf diese zugeht. Ich glaube, dass man den Kindern und Jugendlichen Angebote vorhalten sollte, was Motorik, Sport, sprachliche Förderung, soziale Kontakte und die schulische Entwicklung betrifft. Denn: Kinder ohne Bildung sind später Menschen ohne Zukunft.
Kontakt zur Tagesklinik
Die Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie unter dem Dach der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, an der Adenauerallee 30, bietet 24 Behandlungsplätze.Die Behandlung der jungen Patienten findet von Montag bis Freitag statt und dauert abhängig vom Störungsbild ein bis vier Monate. Das Therapieangebot beinhaltet beispielsweise medizinische und psychologische Diagnostik, Einzel- und gruppentherapeutische Angebote, eine familiensystemische Behandlung, soziales Kompetenztraining, Bewegungstherapie, Kunsttherapie, oder auch eine tiergestützte Therapie.Während der Behandlung bekommen die Kinder und Jugendlichen in den nahe gelegenen Räumen der Kinderklinik in der Städtischen Schule für Kranke Schulunterricht. Die Aufnahme in der Tagesklinik erfolgt nach einem ambulanten Erstgespräch.Weitere Informationen gibt es unter 0209 369-364, per E-Mail unter tagesklinik@kjkge.de oder im Netz unter kjkge.de
Es wäre sehr sinnvoll, die Hilfesysteme, wie Schulen, Jugendämter, Therapeuten, Kliniken, Kinderärzte noch enger zu vernetzen, dass da keiner durchs Raster fällt. Je enger und intensiver die Vernetzung der Systeme, desto schneller gibt es Hilfen. Ich glaube, dass das noch ausbaufähig ist.
Und noch etwas: Schulen und Sportvereine müssen offen bleiben – das setzt eine hohe Impfwilligkeit und -bereitschaft voraus, damit wir diese Pandemie schnellstmöglich überwinden. Ich kann nur wirklich dafür plädieren, weil es einfach so wichtig für die Kinder und Jugendlichen ist.