Gelsenkirchen. Gabriele Junker vertritt viele Rumänen und Bulgaren, die in Gelsenkirchen leben. Wo sie die „Härte“ des Ausländeramts ungerecht findet.
Zu Gabriele Junker kommen die Menschen, wenn sie Probleme mit dem Jobcenter haben. Von ganz alleine ist die Sozialrechtlerin damit quasi zur Expertin in Sachen EU-Aufenthaltsrecht geworden. Denn etwa die Hälfte ihrer Klienten sind mittlerweile Rumänen und Bulgaren, häufig mit Wohnsitz in Gelsenkirchen. Es ist eine Gruppe, für die es in der Stadtbevölkerung häufig an Akzeptanz mangelt. Aber was sagt diejenige, die diese Menschen vertritt? Sie behauptet: „Man lässt sie ins offene Messer rennen.“
Mit vielen ihrer Mandanten kommt Junker zuerst im „Lalok Libre“ in Schalke in Kontakt, dort, wo sie regelmäßig Sprechstunden anbietet. Immer häufiger geht es dabei um die Verlustfeststellung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die seit 2014 vollständig für Rumänien und Bulgarien gilt.
Südosteuropäer in Gelsenkirchen: Wann das Recht auf Freizügigkeit überprüft wird
EU-Bürger von dort dürfen seitdem hierhinziehen, wenn sie hier einen Job haben oder sich hier um einen bemühen. Nach Junkers Schilderung werden ihre Mandanten dann immer wieder von Anhörungsschreiben der Ausländerbehörde überrascht. Und zwar dann, wenn die Behörde Kenntnis von Tatsachen erlangt, die Anlass zum Zweifeln geben, ob die EU-Freizügigkeit nicht missbräuchlich genutzt wird, zum Beispiel zum Bezug von Sozialleistungen.
Anlass zum Zweifel können laut Junker etwa mehrere kleinere Vergehen wie das wiederholte Fahren ohne Führerschein oder Ladendiebstähle der Kinder sein, aber auch härtere Straftaten. „Infolge wird dann das Recht auf Freizügigkeit überprüft. Die Straffälligkeit eines Familienmitgliedes führt zur Prüfung der Freizügigkeit aller Familienmitglieder. Die Betroffenen werden dann aufgefordert, ihre Einnahmen zum Lebensunterhalt, Miete und Krankenkasse offen zu legen“, berichtet die Anwältin über ihre Fälle.
Überprüfung von Rumänen und Bulgaren: Welche Arbeit reicht aus?
Gabriele Junker weist darauf hin, dass bei Menschen, die sich bereits mehrere Jahre in Gelsenkirchen aufhalten, auch regelmäßig geprüft werde, wie genau ihre Erwerbstätigkeitshistorie seit ihrer Einreise in Deutschland aussieht. „Es geht um die Frage, ob Dauer und Umfang der Beschäftigungen und die Höhe des Lohnes im krassen Widerspruch zum Sozialhilfebedarf- und Bezug stehen“, erläutert die Anwältin.
Was nun als hinreichende Arbeit gilt, dazu existieren unterschiedliche Rechtsauffassungen. Gabriele Junker etwa ist überzeugt, dass auch ein Minijob als Nachweis ausreicht. „Und viele Rumänen und Bulgaren gehen auch davon aus“, sagt sie über ihre Mandanten. Es geht dabei um Jobs mit einer geringen Qualifikation, die unter den häufig ungebildeten Armutsmigranten aus Südosteuropa augenscheinlich weit verbreitet sind. Junker nennt sie „Jobs, die sonst kaum einer machen will“: Abrissarbeiten, Regale einräumen, putzen.
Stadt Gelsenkirchen: Geringfügige Beschäftigung reicht nicht aus
Die Stadt Gelsenkirchen aber sagt: „Liegt keine oder nur eine geringfügige Erwerbstätigkeit vor“, sei davon auszugehen, dass sich eine Person „nicht im Rahmen der Arbeitnehmerfreizügigkeit im Bundesgebiet aufgehalten hat.“ Ein Minijob reicht nach dieser Auffassung nicht aus. Wer sich über Jahre also mit Minijobs über Wasser gehalten hat, der muss damit rechnen, dass das Ausländeramt dann sagt: Du warst zu unrecht hier, du musst jetzt ausreisen.
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Junker findet das „ungerecht“. Ihr zufolge zeigt das Ausländeramt in Gelsenkirchen hier „besondere Härte“ – was sich offenbar auch darin zeigt, dass immer häufiger der Rechtsweg gegen die Entscheidung beschritten wird: Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen bestätigt auf Nachfrage den Eindruck, dass „dass die Zahl der Klage- und Eilverfahren betreffend Verlustfeststellungen durch die Stadt Gelsenkirchen 2022 zugenommen hat.“
Es geht aber nicht nur um die unterschiedliche Auffassung mit Blick auf die Beschäftigung. Gabriele Junker argumentiert zudem, dass sich nach aktueller Rechtsprechung beispielsweise auch allein durch den Nachweis eines regelmäßigen Schulbesuchs der Kinder ohne unentschuldigte Fehlzeiten ein eigenes Aufenthaltsrecht für die Kinder und ein abgeleitetes Freizügigkeitsrecht für die Eltern ergeben kann. Aus dem Sozialrecht ergebe sich sogar, dass Ausländer, die länger als fünf Jahre in Deutschland sind, auch ohne Erwerbstätigkeit nicht von Sozialleistungen ausgeschlossen werden können.
Anwältin Gabriele Junker: „Die Menschen werden in Existenznot gebracht“
Hat die Ausländerbehörde aus ihrer Sicht jedoch einmal festgestellt, dass der Aufenthalt dieser EU-Bürger in Deutschland nicht rechtmäßig ist und das Recht auf Freizügigkeit missbraucht wurde, dann werden in der Regel die Sozialleistungen eingefroren – von aufstockenden Leistungen beim Bürgergeld bis zum Kindergeld. Die nächste Eskalationsstufe kann sein: der Verlust der Wohnung, möglicherweise Obdachlosigkeit. „Die Leute werden in eine existenzgefährdende Situation gebracht“, sagt Junker.
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Verlassen würden ihre Mandanten Deutschland daraufhin nicht, sondern „versuchen, in einem zähen Verfahren, die Verlustfeststellung wieder aufheben zu lassen.“ Hier müssten Betroffene über Wochen warten, bis die neu aufgerollten Verfahren abgeschlossen werden, zusätzliche Arbeitsverträge anerkannt werden und die Verlustfestellung möglicherweise aufgehoben wird.
Abgeschoben werden ohnehin die wenigsten ausreisepflichtigen Rumänen und Bulgaren – eine Praxis, die vor allem Intensivstraftätern vorbehalten ist. Vergegenwärtigt man sich den Missbrauch, der mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit betrieben wird, mag die „Härte“ der Stadt auch naheliegend sein. Nicht umsonst sind es die Verstöße gegen das Freizügigkeitsrecht, welche bei den Kontrollen des Interventionsteams EU-Ost unter allen Verstößen am häufigsten auffallen. Mit Blick auf die vielen kritischen Stimmen zu den Folgen der Armutsmigration in Gelsenkirchen steht die Stadt unter Handlungsdruck.
Scheinarbeitsverhältnisse wie Hausmeisterjobs für wenige hundert Euro im Monat, ausgerechnet im Wohnhaus des Vermieters, organisierter Kindergeldbetrug, in Gelsenkirchen angemeldete Personen, die längst nicht mehr in Gelsenkirchen wohnen – auch Anwältin Gabriele Junker kennt diese Fälle aus der Community. Sie ist jedoch auch überzeugt: „Es trifft oft auch die Falschen.“ Denn gerade, wer für die Ämter greifbar sei, sich bemühe hier durch schwierige Jobs und den Schulbesuch der Kinder eine Existenz aufzubauen, der beabsichtige oft auch, nach den Regeln zu spielen. „Den Sozialstaat schröpfen andere.“