Gelsenkirchen. Die Hicret-Moschee in Gelsenkirchen-Hassel fühlt sich ausgegrenzt. Die Politik verdächtigt sie – und schafft einen schwierigen Präzedenzfall.

  • Die „Islamische Gemeinschaft Millî Görüş“ (IGMG) in Gelsenkirchen-Hassel hat keine Gelder aus dem Bezirksforum Nord erhalten. Nun sieht sie sich „kriminalisiert“ und „abgestempelt“.
  • Die Politik hat die Mittel nicht freigegeben, weil sie wegen der Nennung der Millî-Görüş-Bewegung im NRW-Verfassungsschutzbericht verunsichert ist.
  • Aber handelt der Moscheeverein wirklich verfassungsrechtlich problematisch? Experten warnen vor einem „Pauschal-Urteil“ und fordern, bei der Bewertung sensibler zu sein.

Ordnungsrufe, persönliche Angriffe, kontroverse Diskussionen: Die Gelsenkirchener Politik hat eine besonders hitzige Debatte hinter sich, die sich im Kern um die Frage dreht: Wurden muslimische Vereine gezielt bei der Vergabe von Geldern ausgeschlossen? „Wir wollen nicht abgestempelt werden“, heißt es aus der betroffenen Gemeinde, bei der eine Beobachtung durch den Verfassungsschutz im Raum steht. Ist der Vorwurf berechtigt oder nicht? Von vorne.

Am 10. November 2022 tagt die Bezirksvertretung Nord, das politische Beratungsgremium für den Gelsenkirchener Norden. Die anwesenden Politiker müssen an diesem Tag darüber abstimmen, ob diejenigen, die vorher auf dem Bezirksforum Nord im Oktober Anträge gestellt haben, auch das gewünschte Geld bekommen. Die Bezirksforen sind eine Gelsenkirchener Eigenheit. Hier können Vereine, Organisationen und Initiativen aus der Stadtgesellschaft ganz niederschwellig Gelder für Projekte beantragen – für Weihnachtsbeleuchtung, Bierzeltgarnituren, Insektenhotels oder für Bildungsseminare, wie es die Hicret-Moschee, die „Islamische Gemeinschaft Millî Görüş“ (IGMG) in Hassel, getan hat.

Politiker in Gelsenkirchen lehnen Mittel für muslimische Vereine wegen angeblicher Integrationsfeindlichkeit ab

Doch zur Überraschung der Gemeinde stimmen die Lokalpolitiker an jenem Tag gegen die 1000 Euro, die der Moscheeverein beantragt hatte. Auch der „Verein für Bildung und Integration“ (VBI) in Hassel, organisiert im Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ), geht leer aus. Er will einen Raum für die Hausaufgabenhilfe für 2500 Euro ausstatten. Alle anderen 43 Anträge aus der Bürgerschaft gehen durch.

Pikant dabei: Abgelehnt werden die Anträge der muslimischen Vereine, weil mit dem Verfassungsschutz und angeblicher Integrationsfeindlichkeit argumentiert wird. „Für uns als ehrenamtliche Politiker war es in der laufenden Sitzung und in der Kürze weder prüfbar noch zu verifizieren oder zu widerlegen, ob die Arbeit der Antragsteller auf der freiheitlichen und demokratischen Grundordnung fußt“, schildert Jürgen Köpsell, Chef der SPD-Bezirksfraktion, auf Nachfrage seine Erinnerungen.

Die Fakten: So beurteilt der NRW-Verfassungsschutz den Dachverband der Gelsenkirchener Moschee

Warum dieser Verdacht bei dem „Verein für Bildung und Integration“ aufkam, ist weiterhin schwer zu rekonstruieren. Man wisse einfach zu wenig über den Verein, heißt es heute unkonkret von CDU und SPD. Bei der Hicret-Moschee ist die Sache schon eindeutiger. Denn in der Tat taucht die „Millî-Görüş-Bewegung“ im aktuellen NRW-Verfassungsschutzbericht auf.

Bei der Hicret-Moschee an der Polsumer Straße in Gelsenkirchen-Hassel ärgert man sich darüber, keine Mittel aus den Bezirksforen erhalten zu haben.
Bei der Hicret-Moschee an der Polsumer Straße in Gelsenkirchen-Hassel ärgert man sich darüber, keine Mittel aus den Bezirksforen erhalten zu haben. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Das erste Ziel der Mission von Milli Görüş ist die Durchsetzung der ,gerechten Ordnung’ in der Türkei. Die islamische Zivilisation solle die westliche Zivilisation in der Vorherrschaft ablösen, um anschließend die Mission in die Welt hinauszutragen“, heißt es im Verfassungsschutzbericht über die vom ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten und 2011 verstorbenen Necmettin Erbakan mitbegründete Bewegung.

Verfassungsschutz NRW: „Aktuell keine relevanten Extremismusbezüge feststellbar“

Auf WAZ-Nachfrage führt man beim Verfassungsschutz weiter aus, dass auch die IGMG, die Dachorganisation der Hasseler Moschee, zwar „grundsätzlich nach wie vor der ,Millî Görüş’-Bewegung zuzuordnen ist“. Aber: Während andere der in Deutschland aktiven und der Bewegung zuzuordnenden Teilorganisationen weiterhin „deutlich dem antiwestlichen, antisemitischen und antidemokratischen Weltbild von Necmettin Erbakan verhaftet sind, weist die IGMG zwischenzeitlich in NRW kaum noch offene Extremismusbezüge auf.“

Es seien in den im Bundesland agierenden Orts- und Landesverbänden der IGMG „aktuell keine relevanten Extremismusbezüge feststellbar“, heißt es. Insbesondere sei nicht erkennbar, „dass die IGMG-Verbände in NRW die politischen Ziele der ,Millî Görüş’-Bewegung verfolgen oder organisatorisch maßgeblich unterstützen.“

Türkei- und Islamexperten warnen: Gemeinden nicht zu pauschal abstempeln

Eine Differenzierung halten auch Experten aus der Wissenschaft für bedeutsam. „Es ist sehr schwierig, bei der Beurteilung solcher Vereine alleine vom Dachverband auszugehen“, sagt Haci Halil Uslucan, Professor für Moderne Türkeistudien an der Universität Duisburg-Essen. „Die Gemeinden führen in den meisten Fällen ein Eigenleben, man darf sie nicht zu pauschal bewerten“, mahnt auch Raida Chbib, die an der Ruhr-Uni Bochum promoviert hat und heute Geschäftsführerin der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft an der Goethe-Universität Frankfurt ist.

Chbib hält es für ratsam, „genau hinzuschauen“, also „vor Ort nachzufragen, wer in der Gemeinde aktiv ist und wie sie sich in das städtische Leben einbindet.“ Darüber hinaus gebe es gegenwärtig eine lebendige Diskussion unter Wissenschaftlern vom Fach darüber, wie Millî Görüş 2023 überhaupt zu bewerten ist. „Da hat sich auch sehr viel getan in den letzten Jahren, bei der IGMG gibt es etwa einen sehr erstarkten Dialog mit der deutschen Politik“, sagt Chbib. Klar sei, dass es längst eine „interne Ausdifferenzierung“ in den Gemeinden gebe – zwischen der traditionalistischeren älteren Generation und den Jüngeren, „die mit vielen neuen Ideen gekommen sind.“

Muslimische Gemeinde in Gelsenkirchen-Hassel will Ablehnung „nicht auf sich sitzenlassen“

So ähnlich klingt es auch, wenn man die Gemeinde selbst fragt. „Jetzt ist die jüngere Generation hier. Und wir vertreten längst keine politische Meinung mehr“, sagt Serdar Yilmaz vom Vorstand der Hicret-Moschee. „Unser politisches Bein ist weggebrochen“, formuliert es Imam Adnan Yildiz bildhaft. Im Dachverband IGMG zu sein, gebe den Hasselern mehr Handlungsmöglichkeit – zum Beispiel, was jetzt ganz aktuell die zielgerechte Weiterleitung von Spenden für die Erdbeben-Opfer angehe.

Erschrocken sei man hier in der Gemeinde darüber gewesen, dass man die Gelder aus dem Bezirksforum mit dem Verweis auf den Verfassungsschutz abgelehnt hat, obwohl zur Eröffnung der Moschee im Oktober noch Politiker von SPD, CDU und Grünen erschienen waren. „Plötzlich werden wir abgestempelt“, sagt Yusuf Tav, der Vorsitzende des Vereins. „Was sollen wir denn unseren Mitgliedern erzählen, warum wir die Mittel nicht bekommen haben? Dass man denkt, wir seien gefährlich?“, fragt sein Kollege Yilmaz.

Kontroverse im Gelsenkirchener Ratssaal: Die Vergabe der Mittel aus den Bezirksforen sorgte für hitzige Debatten im Hauptausschuss.
Kontroverse im Gelsenkirchener Ratssaal: Die Vergabe der Mittel aus den Bezirksforen sorgte für hitzige Debatten im Hauptausschuss. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Beide wollen den Vorgang nicht auf sich sitzenlassen – und formulierten deshalb im Dezember einen Brief an Oberbürgermeisterin Karin Welge. Darin fordern sie, aufzuklären, warum es zu der „Diskreditierung und Kriminalisierung“ gekommen sei. „Wir engagieren uns in Bildung und Jugendarbeit im Quartier und pflegen gute nachbarschaftliche Beziehungen mit allen Bürger*innen vor Ort“, heißt es darin. Deswegen sei es umso trauriger, dass „so viel Misstrauen gegenüber unserer Gemeinde geschürt wird.“

Hitzige politische Diskussion im Gelsenkirchener Hauptausschuss

Die Verwaltung sah sich jedoch offenbar als falschen Adressaten. In dem Antwortschreiben an die Gemeinde erläutert Stadtdirektor Luidger Wolterhoff, dass er und OB Welge die Wahrnehmung der Gemeinde „zutiefst bedauern“ würden, die Verwaltung in den Bezirksforen jedoch lediglich eine Moderationsfunktion habe. Das heißt: Dass die Mittel nicht an die Gemeinde gegangen seien, sei eine rein politische Entscheidung.

Regeln für die Bezirksforen

Als Folge aus der Debatte um die nicht gewährten Mittel für die muslimischen Vereine, wird man in der Politik noch mal darüber diskutieren, ob die Kriterien für die Bezirksforen neu formuliert werden müssen. Das zeichnete sich bereits im Hauptausschuss ab.

Denn wie Stadtdirektor Luidger Wolterhoff betonte, ist die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht kein Ausschlusskriterium dafür, ob ein Verein Mittel beantragen darf. Ob die Politik die Mittel am Ende aus solchen Gründen nicht gewährt, ist eine andere Frage. Aber grundsätzlich „gibt es kaum Regeln und das ist gerade die Stärke des Formats“, sagte Wolterhoff. Die Bezirksforen seien bewusst niederschwellig angelegt.

Außerdem: Hätte man sich nicht all den Ärger erspart, wenn die Anträge der muslimischen Vereine einfach hätten geschoben und anschließend geprüft werden können, statt sie direkt aufgrund des Verdachts der Verfassungsbeobachtung abzulehnen? Diese Frage wirft zumindest SPD-Fraktionschef Jürgen Köpsell mit seinem Vorschlag auf, das Regelwerk anzupassen und eine nachträgliche Prüfung zu ermöglichen. „Das ist unser dringender Wunsch.

Zweifel an der Moderationsrolle der Stadt hatte allerdings Ratsherr Ali-Riza Akyol von der WIN-Fraktion, dem zu Ohren gekommen war, dass Stadträtin Andrea Henze einen Verweis auf den Verfassungsschutz gegeben haben soll und so möglicherweise die Politik in ihrer Entscheidung gegen die muslimischen Gemeinden beeinflusst haben könnte. Henze wehrte sich dagegen aber vehement und forderte Akyol auf, die Vorwürfe nicht weiter zu wiederholen.

Politische Parteien aus Gelsenkirchen wollen muslimische Vereine jetzt besuchen

Akyols Antrag führte zu einer der hitzigsten politischen Sitzungen der vergangenen Jahre, bei der der WIN-Politiker mehrmals wutentbrannt den Saal verließ und sich die Verwaltung gezwungen sah, sich gegen Rassismus-Vorwürfe zu verteidigen. Deutlich wurde auch Grünen-Fraktionschefin Adrianna Gorczyk, die es „mehr als peinlich und verwerflich“ fand, dass seitens CDU und SPD erst die Vermutung aufgestellt worden sei, dass es sich bei den betroffenen muslimischen Vereinen um Verfassungsfeinde handeln könne – beide Fraktionen aber bis heute nichts zur Klärung der Sache beigetragen hätten.

Immerhin zu dieser Klärung soll es jetzt, Monate nach den Bezirksforen und großem politischen Tumult später, doch noch kommen: Sowohl CDU als auch SPD und Grüne wollen in den nächsten Wochen sowohl die Hicret-Moschee als auch den „Verein für Bildung und Erziehung“ besuchen. „Plötzlich stehen wir im Rampenlicht“, kommentiert Serdar Yilmaz vom Moscheeverein die Ankündigung süffisant. „Das alles hätten wir auch vorher auf dem kurzen Dienstweg regeln können.“