Gelsenkirchen. Jürgen Hansens Einsatz für die Ukraine war 2022 beispiellos. Ein Gespräch mit dem Gelsenkirchener über Rache, Helden und seine schwere Krankheit.

Jürgen Hansen ist eines der Gesichter des Jahres – wobei er den Großteil der Zeit ja nicht hier in Gelsenkirchen, sondern im Kriegsgebiet verbracht hat. Der 65-jährige SPD-Ratsherr und Ex-Pirat, Flüchtlingshelfer und frühere Bauunternehmer hat die Solidarität mit der Ukraine lebendig gemacht und gehalten. Er hätte an der Emscher bleiben können, aber ist doch jedes Mal wieder zurückgekehrt ins zentralukrainische Krementschuk. Jedes Mal aufs Neue hat er sein Leben riskiert, um Spenden, Einsatzfahrzeuge, medizinische Geräte zu den notleidenden Menschen zu bringen, teils sogar bis an die Front. Obwohl er – wie er öffentlich lange verschwieg – an einer schweren Krankheit leidet.

Warum hat er all das getan? Zum Jahresabschluss ist Hansen (kurzzeitig) heimgekehrt und hat noch einmal mit uns gesprochen – über Heldentum, Rache und Bilder, die nicht aus dem Kopf gehen.

Wie oft wurden Sie in diesem Jahr als „Held“ bezeichnet?

Jürgen Hansen: Nicht ein einziges Mal. Ich bin auch kein Held, alles andere als das. Manchmal mache ich mir in die Hosen vor Angst. Aber „Freund“ wurde ich oft genannt, sehr oft. Ich glaube, dass jeder andere in meiner Situation genauso gehandelt hätte wie ich.

Glauben Sie das wirklich? Sie hätten der Ukraine jederzeit den Rücken kehren können.

Sicher habe ich zu Beginn des Krieges darüber nachgedacht, das Land zu verlassen; jetzt bin ich der einzige Ausländer in der Stadt, in der ich dort lebe. Wenn jemand denselben Prozess durchlaufen hätte wie ich, also all die Menschen getroffen hätte, die ich getroffen habe und sich angehört hätte, welche Hilfe sie brauchen, dann hätte derjenige genauso gehandelt. Doch, da bin ich mir sicher.

Sie haben für Ihren Einsatz in der Ukraine eine Ehrenurkunde erhalten. Welche Rolle haben Sie für die Menschen in Krementschuk und Switlowodsk, also der Nachbarstadt, in der Sie leben?

Ich bin für sie ein Teil der Gemeinschaft. Ich habe dort an den Krisenstabssicherungen mit beratender Stimme teilgenommen und erhalte Informationen aus erster Hand. Der Bürgermeister von Switlowodsk fragte mich, ob ich in den vier Schulen in der Stadt, die mittlerweile alle mit Flüchtlingen vollbelegt sind, nicht mal etwas über Migrationsrecht in der EU und dem Leben in Deutschland erzählen könnte. Mittlerweile toure ich zwei Mal die Woche durch die Schulen und berichte darüber.

Jürgen Hansen (re.) mit Vitalij Maletzkiy, dem Bürgermeister vom Krementschuk. In der Hand hält Hansen eine Ehrenurkunde, die er für seinen Einsatz bekommen hat.
Jürgen Hansen (re.) mit Vitalij Maletzkiy, dem Bürgermeister vom Krementschuk. In der Hand hält Hansen eine Ehrenurkunde, die er für seinen Einsatz bekommen hat. © Jürgen Hansen

Und? Was erzählen Sie über das Leben in Deutschland?

Dass die Hähnchen hier nicht wie im Schlaraffenland vom Himmel fallen, sondern dass man hier dafür hart arbeiten muss. Wir haben ein gutes Sozialsystem, auch deswegen ist Deutschland als Zuwanderungsland so gefragt. Aber ich erzähle den Ukrainern auch vom Wohnen in Turnhallen und Gemeinschaftsunterkünften, davon, wie die deutschen Preise sind und was deutsche Familien verdienen. Und dann rechne ich das in Hrywnja, in die ukrainische Währung, um, und die Leute schlagen die Hände über dem Kopf zusammen.

In diesem Jahr hat man eine weit fortgeschrittene Chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) bei Ihnen diagnostiziert. Wie sehr hat Sie das bei Ihrer Ukraine-Mission zurückgeworfen?

In der Tat war ich in diesem Jahr so krank, dass ich gedacht habe, ich muss sterben. Das war direkt, nachdem wir den ersten Hilfskonvoi über die Bühne gebracht hatten und ich stundenlang bei Minus-Temperaturen mit einer dünnen Jacke an der Grenze gewartet habe. Das war leichtsinnig von mir, das hat der COPD einen Schub gegeben. Ich wurde dann in der Ukraine in einem Krankenhaus behandelt und später im Bergmannsheil in Gelsenkirchen. Mein Arzt sagte mir dann, ich hätte nur noch ein Lungenvolumen von 24 Prozent. Meine Zeit ist begrenzt, aber im Moment geht es mir gut. Ich habe schlagartig aufgehört zu rauchen und muss die Dinge etwas ruhiger angehen.

Gesundheitlich am Tiefpunkt: COPD-Patient Jürgen Hansen bei seiner Behandlung in der Ukraine.
Gesundheitlich am Tiefpunkt: COPD-Patient Jürgen Hansen bei seiner Behandlung in der Ukraine. © Jürgen Hansen

Wie sehr hat Sie dieses Jahr geprägt?

Mit 65 Jahren sollte man eine gewisse Reife haben, aber dieses Jahr hat mich in der Tat noch mal reifer gemacht. Ich habe früher immer gedacht: Dir kann keiner etwas anhaben! Davon bin ich weg. Es sind mir einige Sachen unglaublich nahe gegangen.

Welche Bilder sind besonders schwer aus dem Kopf zu bekommen?

Die Bilder von Kindern, die in zerrissenen Kleidungen aus den Kellern gekrochen kommen, in dem ihre tote Großmutter liegt. Bilder von toten Soldaten im Schlamm und Dreck. Am furchtbarsten war jedoch der Moment, als ein Soldat, der uns an die Front begleitet hat, der Bruder eines guten Freundes, auf eine Infanteriemine getreten ist, die ihm den Unterschenkel weggerissen hat. Zum Glück haben wir sofort reagiert und ihn ins Lazarett gebracht. Ich saß neben ihm, als er höllisch blutete und geschrien hat. Aber er hat überlebt, ein Teil seines Beins wurde amputiert. Vielleicht gelingt es mir, hier in Deutschland eine richtige Prothese für ihn anfertigen zu lassen. In der Ukraine kommen aktuell Holzprothesen zum Einsatz.

Was hat Ihnen bei all diesen schrecklichen Erlebnissen auch Glücksmomente beschert?

Wenn ich eine kalte Flasche Bier bekommen konnte, das waren die besonders glücklichen Momente. Aber auch die Tiere machen mir viel Freude. Meine Lebenspartnerin und ich versorgen mittlerweile 12 Katzen und zwei Hunde von der Straße, dazu kommen unsere eigenen drei Katzen. Die wissen: Bei Hansen gibt es immer was zu futtern – dank der Tiertafel und der ganzen, großartigen Helfer in der Georgskirche hier in Gelsenkirchen, die das ganze Tierfutter heranschaffen. Und auch eine Vogelspinne wohnt inzwischen bei uns, sie heißt Chorka (lacht).

Jürgen Hansens Hauskatzen haben Nachwuchs bekommen. Insgesamt hat er viele Tiere um sich. „Die wissen: Bei Hansen gibt es immer was zu futtern.“
Jürgen Hansens Hauskatzen haben Nachwuchs bekommen. Insgesamt hat er viele Tiere um sich. „Die wissen: Bei Hansen gibt es immer was zu futtern.“ © Hansen | Jürgen Hansen

In Switlowodsk wollten Sie eigentlich Ihren Ruhestand genießen und nach Ende der laufenden Ratsperiode ihren Lebensmittelpunkt dorthin verlagern. Dass dies nun aufgrund des Krieges erst einmal nicht möglich ist: Welche Emotionen löst das bei Ihnen aus?

Wut, pure Wut. Ich hatte mir gerade für meine Ferienresidenz in der Ukraine ein Boot zugelegt, mit Verdeck, Kajüte und 50 PS, an einem Stausee, der 240 Kilometer lang ist und einen Fischbestand hat, von dem man nur träumen kann. Und dann kam der Krieg, von dem auch ich total überrollt wurde. Ich hätte meinen rechten Arm darauf gewettet, dass es nicht zu einem Krieg kommt. Eigentlich wollte ich den Sommer 2022 angelnd auf meinem Boot verbringen; jetzt hat es noch nicht einmal Wasser gesehen.

Ist Ihr Einsatz für die Ukraine also auch ein bisschen ein Rache-Akt?

Ich sag‘ immer gerne: Putin hat mir meine Rente versaut, jetzt versuche ich, ihm bestmöglich den Krieg zu versauen.