Gelsenkirchen. Mit Drogen versackt, verurteilt, Sozialstunden: Zwei junge Gelsenkirchener über Einschläge in der Kindheit und den Kampf, wieder Fuß zu fassen.
Früh reißt es ihnen den Boden unter den Füßen weg in ihrer Kindheit, sie verlieren sich in Drogen und krummen Dingern mit falschen Freuden. Doch die Anerkennung in der Clique kann den Verlust von Geborgenheit daheim nicht ausgleichen. Am Ende landen Sophie* und Mario* vor Gericht. Rund 600 Sozialstunden müssen sie insgesamt ableisten. Die 24-Jährige und der 30-Jährige versehen ihren Dienst bei der Tiertafel in Gelsenkirchen und auch bei der Ukraine-Hilfe. Ihr Wunsch: „Wieder ein geregeltes Leben zu führen, einen festen Job zu haben.“ Ihr Antrieb: „unsere Kinder“, beide haben jeweils zwei Jungs.
Verurteilte Gelsenkirchener: Zusammen müssen sie rund 600 Sozialstunden ableisten
Regeln und Normen, davon waren die beiden Gelsenkirchener Sozialstündler lange weit weg. Sophie hat eine Geldstrafe aufgebrummt bekommen, aber „mehrmals die fällige Rate nicht bezahlen können.“ Die 24-Jährige hatte ihren Mann mit ihrem Auto fahrenlassen, obwohl er keinen Führerschein hat. Ihre angebliche Unkenntnis davon hat man ihr vor Gericht nicht abgenommen. Und auch ihr Liebster ist kein unbeschriebenes Blatt, er steht wegen der Herstellung von Amphetaminen unter Führungsaufsicht und Bewährung, „ein Fehltritt und er landet für lange Zeit hinter Gittern“, beschreibt Sophie die Ausgangslage. 270 Sozialstunden muss sie zur Wiedergutmachung leisten, wegen der beiden gemeinsamen Kinder wurden die ursprünglich angedachten 54 Tage Haft in unbezahlte Arbeit für die Allgemeinheit umgewandelt.
Mario hat mehr auf dem Kerbholz, wegen mehrfachen Diebstahls, Einbruchs und Drogenbesitzes sind ihm 320 Sozialstunden vom Gericht auferlegt worden. Der Vorwurf des Drogenhandels spielte in seinen Verfahren auch eine Rolle, „beweisen konnt man mir das aber nicht“, sagt der heute 30-Jährige. Vielleicht sein Glück, ansonsten hätte es wohl direkt geheißen: Ab hinter schwedische Gardinen. Zwar hat auch er zwei Kinder, die aber leben wegen potenzieller Gewaltausbrüche bei der Kindesmutter. Eine Vorsichtsmaßnahme des Jugendamtes.
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Der Bruch in ihrer Vita kommt für Sophie und Mario im Alter von 13 bis 14 Jahren. Ihre leiblichen Eltern hatten sich zuvor getrennt, Stiefvater und Stiefmutter ersetzten fortan den jeweiligen Elternteil. Eine schwierige Gemengelage. „Mehr noch“, sagt Mario. „Ich musste mit ansehen, wie mein Stiefvater meine Mutter mit dem Kopf ins Sofa gedrückt und nach Strich und Faden verprügelt hat.“ Nicht auszuhalten, irgendwann hat er dann angefangen, selbst zu schlagen. Erst den alkoholkranken Ersatzvater, später andere.
Bei Sophie war es kein Gewaltexzess wie in vielen Familien. „Mobbing in der Schule“ riss bei ihr eine emotionale Wunde, vertieft wurde diese, als plötzlich noch ein Nachzügler ins Zentrum der Patchwork-Familie rückte. „Ich musste mir meine Mutter plötzlich mit einem kleinen Bruder teilen“, sagt die heute 24-Jährige.
Krumme Dinger und Drogen: Ersatz für fehlende Zuwendung und Geborgenheit
Zuwendung, Anerkennung, Geborgenheit, das alles scheint für die beiden jungen Menschen von nun an so weit weg. Das Glück holen sie sich per Drogen zurück – erst mit Hilfe von Cannabis, später dann mit Amphetaminen. Damit beginnt ihr ganz „persönlicher Teufelskreis“, wie Sophia und Mario von ihrem Leben mit „falschen Freunden“ berichten. Ein Wechselspiel zwischen Beschaffungskriminalität und dem Verlangen, Status und Respekt in der Clique nicht zu verlieren – ihrer Ersatzfamilie.
Sie steht„meist Schmiere“, wenn es darum geht, irgendetwas abzugreifen, das man zu Geld machen konnte, ihn lockt die Aussicht auf etwas Wertvolles wenn „er durch ein offenes Fenster“ irgendwo einsteigt. „Auf fünf bis zehn Gramm Gras pro Tag“ bringt es Sophie in der Hochphase ihres Konsums, „umgerechnet sind das 500 bis 600 Euro im Monat“. Bei Mario war der Vorrat von 30 Gramm Amphetaminen spätestens nach zwei oder drei Tagen aufgebraucht, was den Geldbedarf auf stolze 1500 Euro im Monat katapultierte – nur für den Rausch.
Der Rausch dämpft Sophias Stimmungsschwankungen und bei Mario die Wut, gebacken bekommen sie aber wenig. Ihre Ausbildungen als Floristin und Konditorin scheitern, seine Lehre als Facharbeiter im Hausbau für Trockenbau, Fliesen und Mosaik läuft ins Leere. Dass der Kauf und Besitz von 20 bis 30 Gramm Cannabis ab einem Alter von 18 Jahren grundsätzlich straffrei sein soll, halten sie mit Blick auf ihre Lebensgeschichte für völlig falsch. „Mit Drogen funktioniert man einfach nicht“, sagen sie.
Erst die Geburten ihrer Kinder lassen bei beiden den Wunsch aufkommen, etwas zu ändern. Das Risiko, ihre Kinder vom Jugendamt länger oder gänzlich weggenommen zu bekommen, wollen die beiden nicht mehr eingehen. Triebfeder ist dabei die schmerzliche Erinnerung an die eigenen Emotionen und Wunden. „Die Kinder sollen so etwas nicht auch durchleben müssen“, sagen sie. Oder nicht mehr.
Erkenntnis: Kinder sollen schwere emotionale Zeit nicht durchmachen
Denn schon jetzt fällt es Mario schwer, dem beaufsichtigten Treffen mit seinen Kindern alle zwei Wochen etwas Gutes abzugewinnen. Die beiden Jungs wohnen bei seiner Ex. „Eine Stunde“, sagt der 30-Jährige, „was ist das schon, wie soll man da eine Beziehung aufbauen?“ Sophia und ihr Mann, der gerade eine Ausbildung zum Elektriker macht, sind da besser dran. Die Jungs sind zu Hause, das Jugendamt schaut öfter unangemeldet nach dem Rechten, Drogentests geben sie „freiwillig ab“.
Die beiden Sozialstündler sind seit diesem Sommer weg von Cannabis, bei Sophia spielen Amphetamine sogar seit zwei Jahren keine Rolle mehr, wie sie erzählt. Mario ist noch nicht ganz so weit gefestigt, nach Ende der Sozialstunden „steht eine Langzeittherapie an“, damit er „nicht rückfällig wird“.
Die Sucht dauerhaft zu unterdrücken, fällt zugegebenermaßen schwer, der Schmacht meldet sich immer wieder mal. Die Sozialstunden helfen dann, sich auf andere Dinge zu konzentrieren. Bei der Tiertafel sammeln Sophia und Mario Spenden ein und sortieren Hilfsgüter. Bei der Ausgabe an Bedürftige packen sie Kisten und Pakete mit Futter und anderem Tierbedarf. Auch bei der Ukraine-Hilfe mischen sie mit, die Hilfslieferungen ins Kriegsgebiet beinhalten neben Kleidung, Nahrung und Hygieneartikeln auch Waren für Hund, Katze, Maus und Co. Das gibt ihren Tagen wieder eine Struktur. Bis zu zehn Stunden sind sie im Einsatz.
Ob ihr Leben wohl anders verlaufen wäre, wenn zu Hause alles in Ordnung gewesen wäre? „Ganz sicher“, sagen beide. „Eine intakte Familie hätte uns mehr Halt gegeben, wir wären nicht versucht gewesen, uns woanders Selbstbestätigung zu holen“, sind die 24- und der 30-Jährige überzeugt.
Fuß fassen wollen die beiden nach Beendigung der Sozialstunden mit einem Job. Mario hofft, über das Teilhabegesetz und den sozialen Arbeitsmarkt wieder ein geregeltes Leben führen zu können. Gut vorstellen könnte er sich, die Arbeit hier im Tierschutz fortzusetzen. Sophia liebäugelt mit einer Anstellung bei einem Supermarkt oder Discounter, vielleicht wegen der Kinder erst mal nur in Teilzeit. „Packen, Sortieren, Ordnung reinbringen“, sagt die 24-Jährige. „Das kann ich, das will ich machen.“ Für sich und beide für ihr Leben.
* Namen bekannt, von der Redaktion geändert.