Gelsenkirchen. Immer weniger Gelsenkirchener Jugendliche gehen zu Vorsorgeuntersuchungen. Krankenkasse und Mediziner warnen vor Folgen und appellieren dringend.
Sie sind wichtig, können vor schlimmeren gesundheitlichen Folgen bewahren, zudem werden die Kosten von einigen Krankenkassen übernommen: die Jugenduntersuchungen, eine verlässliche Gesundheitsvorsorge, die Teenager und Jugendliche wahrnehmen können. Doch die AOK NordWest und auch Gelsenkirchener Kinder- und Jugendmediziner zeigen sich nun beunruhigt: Immer weniger junge Menschen nutzen das eigentlich so bedeutende Angebot.
Gelsenkirchen: Immer weniger Jugendliche gehen zur Vorsorge – Experten warnen vor Folgen
Nach einer aktuellen Auswertung der AOK NordWest nutzten im vergangenen Jahr nur 30,2 Prozent der AOK-versicherten Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 17 Jahren die medizinischen Checks, die von der AOK NordWest kostenfrei angeboten werden. Im Vorjahr waren es 32,5 Prozent, heißt es seitens der Krankenkasse.
„Im Vergleich zu den Früherkennungsuntersuchungen für Kinder werden die Jugenduntersuchungen deutlich weniger genutzt. Dabei leisten gerade Jugenduntersuchungen einen wichtigen Beitrag zur körperlichen und seelischen Gesundheit. Wir appellieren deshalb dringend an alle Eltern, ihre Kinder zu diesen Vorsorgeuntersuchungen zu motivieren“, sagt AOK-Serviceregionsleiter Jörg Kock.
„Die von der AOK beschriebene Entwicklung können wir grundsätzlich auch bestätigen. Auch wir verzeichnen einen deutlichen Rückgang – nach meiner Einschätzung nutzen nur noch rund 20 Prozent der Jugendlichen das Angebot der J1- bzw. J2-Untersuchung“, sagt auch Dr. Mohammad Kaddour, ärztlicher Leiter des MVZ Kinderarztzentrums Gelsenkirchen (MVZ Katze) am Marienhospital, auf Nachfrage der WAZ Gelsenkirchen.
Als Ursache führt der Facharzt für Kinder- und Jugendkardiologie an: „Wir gehen davon aus, dass Jugendliche, in Absprache mit ihren Eltern, die Anzahl von freiwilligen Arztbesuchen, wie zum Beispiel für Früherkennungsuntersuchungen, in der Pandemie auf ein Minimum begrenzt haben.“ Und er betont: „Die Früherkennungsuntersuchungen für Jugendliche sind ein wichtiges Angebot, nicht nur um die körperliche Entwicklung zu begleiten und zu untersuchen.“
Es gehe auch um die gute Entwicklung der geistigen und sozialen Kompetenzen. Bei der Früherkennungsuntersuchung J1 würden immer die Größe, das Gewicht und der Impfstatus sowie das Blut und der Harn im Kontext der pubertären Entwicklungsstadien überprüft. Bei der sogenannten J2 komme zusätzlich auch das Erkennen von Pubertäts- und Sexualitätsstörungen hinzu.
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Dr. Christof Rupieper, Sprecher der Gelsenkirchener Kinderärzte, teilt die Beobachtungen seines Kollegen Mohammad Kaddour: Auch in seiner Praxis an der Ebertstraße wird das Angebot der Jugenduntersuchungen deutlich weniger in Anspruch genommen. „In den ersten Jahren verläuft die Entwicklung der Kinder rasant in allen Bereichen. Jeder Entwicklungsschritt wird mit großer Freude registriert und oft im Fotoalbum oder im Internet dokumentiert und kommentiert“, so Christof Rupieper auf Nachfrage. Das lässt mit den Jahren nach.
Die Gründe für diese Entwicklung sind laut Rupieper vielfältig. Die Vorsorge-Untersuchungen U10 und U11 seien erst nach der J1 (Untersuchung für Kinder im Alter von zwölf bis 14 Jahren) eingeführt worden. Daher fehle vielen Eltern das Bewusstsein, dass in diesem Zeitraum Entwicklungsstörungen auffallen können. Zudem hätten Jugendliche ein gänzlich anderes Gesundheitsverständnis. Sie würden auch nicht mehr gerne zum Kinderarzt gehen, obwohl die offizielle Bezeichnung ja Kinder- und Jugendmediziner sei.
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Das ist auch für Christof Rupiepers Kollegin, Dr. Christiane Schmidt-Blecher, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin und Leitende Ärztin an der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen, ein entscheidender Punkt – die Rolle und die Bedeutung der Jugendmedizin in den Köpfen. Gerade in diesem Bereich sieht die Medizinerin noch Nachholbedarf: „Mein persönlicher Eindruck ist, dass sich die Jugendmedizin in der Vergangenheit schlecht verkauft hat.“
Christiane Schmidt-Blecher bezeichnet die Jugenduntersuchungen als „sehr, sehr wichtig“, sagt aber auch: „Wir nehmen uns wenig Zeit für die Kinder“ – die sollte man aber haben, um über Dinge, die bewegen, zu sprechen.“ Da brauche es oftmals viel Sensibilität, „wir müssen gleichzeitig auch Psychologen sein.“ Gerade die J1 sei eine der Untersuchungen, die mit am längsten dauere.
Jugenduntersuchungen: Idee der Eigenverantwortung bei Jugendlichen ist „verpufft“
Was sieht sie als Gründe für das eher geringere Interesse an den Untersuchungen? Die Idee sei gewesen, dass die Kinder zunehmend in die Eigenverantwortung gehen, die Termine selbst regeln und ausmachen, lernen, den eigenen Arztbesuch zu organisieren. In Christiane Schmidt-Blechers Augen sei die Idee allerdings „verpufft“. „Es gibt keinen Hebel, den man ansetzen kann, um zu überzeugen“, so die Ärztin. Einen zusätzlichen Grund spricht sie direkt aus: „Dass es einigen Eltern schlicht und ergreifend egal ist.“ Die Arzttermine, das sei typisch für dieses Alter und anders als etwa bei der Vorsorge im Baby- und Kleinkindalter, würden in gegenseitigem Einvernehmen ausgemacht.
Eben diese Vorsorgeuntersuchungen, die U4 bis zur U9 (fünftes Lebensjahr), finden regelmäßig um den Geburtstag herum statt. „Das kann sich jeder gut merken“, führt Christof Rupieper einen weiteren Punkt an. Außerdem gebe es nur bei diesen Untersuchungen ein verbindliches Meldewesen, die Eltern werden von ihren Krankenkassen und/oder dem Kinderarzt an die Untersuchungen erinnert. Nach der U9 vergrößert sich der Zeitraum zwischen den Untersuchungen, beträgt dann gut zwei Jahre. „Daher wird der Termin oft auch vergessen“, ist Rupiepers Erklärung.
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„Wichtig ist auch die Begleitung der Eltern in dieser Zeit“, betont Kinderarzt Rupieper zudem. Die Pubertät sei eine Phase, die die Eltern besonders herausfordert. Gerade in einer solchen Phase können die Jugendmediziner auch Hilfe und Unterstützung für geforderte Eltern sein. Christiane Schmidt-Blecher weiß, dass die ärztliche Betreuung gerade der jungen Menschen nur im Dreiklang funktioniert: „Durch motivierte Jugendliche und Eltern und empathische Jugendmediziner.“