Gelsenkirchen. Sorgen die explodierenden Preise für Lebensmittel bei armen Familien für eine ungesunde Ernährung? Das Problem in Gelsenkirchen ist nicht neu.
Die Preise für Lebensmittel, sie steigen und steigen, Obst wird teurer, Gemüse auch, Brot, Milchprodukte, Fisch sowieso. Die große Befürchtung vieler Experten: Die teils explodierenden Preise könnten dafür sorgen, dass sich immer mehr Familien gesunde Lebensmittel nicht mehr leisten können. Und das in Gelsenkirchen. In kaum einer anderen Stadt in Deutschland leben so viele Kinder und Jugendliche in relativer Armut wie hier. Teures Essen – kranke Kinder? Das indes ist kein neues Problem, eine Kinderärztin und eine Ernährungsberaterin schlagen Alarm.
Gelsenkirchener Kinderärztin: „Übergewicht ist schlimmer als Krebs“
„15 bis 18 Prozent Übergewicht bei Jugendlichen, sechs Prozent haben schwerste Adipositas“ – das sind die Zahlen, die Kinderärztin Dr. Katharina Walter nennt. Und sie sagt auch: „Übergewicht ist die schlimmste Krankheit, schlimmer als Krebs, und birgt ein extrem hohes Gesundheitsrisiko.“ In ihren Augen existiert da ein Riesen-Problem, das sich immer weiter aufbaut („Wir stehen daneben und gucken zu“) – und nicht zuletzt durch die Corona-Krise noch mehr befeuert wurde.
Katharina Walter berichtet aus der Praxis beispielsweise von diesen Fällen: Dass Kinder in der ersten Corona-Welle innerhalb von drei Monaten 20 Kilogramm zugenommen hätten – ohne Chance, die überflüssigen Kilos je wieder loszuwerden.
Die Medizinerin kennt die Ursache für krankhaftes Übergewicht, gerade bei Kindern: Nahrung, Essen, ein Snack sei stets überall verfügbar. „Die Kinder essen den ganzen Tag, haben immer ein Brötchen in der Hand. Die Situation ist so, dass man ständig billige Lebensmittel kaufen kann.“ Weißbrot, Nutella, Marmelade, süße Durstlöscher, Pommes, Burger, Pizza, Fertiggerichte – schnelles Essen, mit wenig Nährstoffen und vielen Dickmachern gibt’s gefühlt an jeder Ecke. Und leider auch in den Küchen und Kühlschränken vieler Familien.
Das kann auch Christina Strotmann bestätigen. Sie ist Ernährungsberaterin am Bergmannsheil in Buer, sie sagt: Der Großteil ihrer jüngeren Patienten komme aus sozial-schwachen Familien. Das sagt auch das Robert-Koch-Institut, das mit Hilfe eines bundesweiten Monitorings das große Thema „Adipositas bei Kindern und Jugendlichen“ in den Fokus nimmt: „Geringe finanzielle Ressourcen in Familien können eine ausgewogene Ernährung und eine körperlich-aktive Freizeitgestaltung der Kinder erschweren und somit die Entwicklung kindlicher Adipositas begünstigen“, so das RKI.
Darüber hinaus „gehe monetäre Armut häufig mit weiteren Formen sozialer Deprivation wie dem Aufwachsen in sozial benachteiligten Wohnquartieren einher, die ihrerseits das Adipositasrisiko von Kindern erhöhen können“, sagen die Experten vom RKI.
Übergewicht bei Kindern: Mit der Zeit kommt die Fettleber, viele bekommen Diabetes
Die Folgen sind vielschichtig, wie das Problem Adipositas und Übergewicht an sich: Mit der Zeit und übermäßigem Zuckerkonsum entwickelt sich eine Fettleber, viele bekommen Bluthochdruck, Diabetes, die Perspektive Richtung Erwachsenenleben reicht von Gefäßverkalkungen bis hin zu Schlaganfällen.
„Psychisch haben die Kinder alle Probleme, sie werden ausgeschlossen, isolieren sich, weil sie gehänselt werden.“ Oftmals sei das Selbstwertgefühl schwer angekratzt, diese Kinder fühlten sich einfach nur schlecht, ist Katharina Walters Beobachtung. 80 Prozent der Kinder seien sehr eingeschränkt, schildert auch Christina Strotmann die Lage in ihrer Beratung.
Nach heutigem Stand sind drei Faktoren hauptsächlich für Übergewicht verantwortlich: Erbanlagen, ungünstige Ernährung und mangelnde Bewegung. „Auch die Umgebung sorgt dafür, dass Kinder übergewichtig werden“, ist Katharina Walter überzeugt.
Sie sieht die Eltern in der Pflicht, in der Verantwortung und auch das: „Ein Bewusstsein für Essen zu erzeugen, ist ein ganz wichtiger Faktor für unsere Gesundheit.“ Sich die Zeit zu nehmen für gemeinsame Mahlzeiten, das werde immer weniger. Das sieht auch Christina Strotmann so: „Der Stellenwert von Essen ist wichtig.“ „Wie es von den Eltern und in den Familien vorgelebt wird, macht ganz viel aus“, ist die ausgebildete Diätassistentin überzeugt.
Stichwort Mangel an Bewegung: Anderthalb Stunden pro Tag, das raten Fachleute wie Katharina Walter und Christina Strotmann, sind optimal. Und damit ist nicht etwa nur der Besuch eines Sportvereins gemeint, sondern schlicht auch das Spielen – und eben nicht das Daddeln an Computer, Handy, Spielekonsole. „Es ist die Kombination aus Bewegung und Essen, die so immens wichtig ist“, sagt Katharina Walter.
- Wir taggen GElsen: Videos und Bilder aus Gelsenkirchen finden Sie auch auf unserem Instagram-Kanal GEtaggt. Oder besuchen Sie die WAZ Gelsenkirchen auf Facebook.
Gegen Süßigkeiten an sich haben die beiden Expertinnen hingegen nichts einzuwenden – aber jeweils eine Handvoll des Kindes muss über den Tag reichen. Die Erfahrung der Kinderärztin: „Es geht nur mit der Waage“, ist sie überzeugt. Ein rigides Ernährungssystem halte sie nicht für gut, das Kind solle nicht zum Abnehmen bewegt werden, sondern vielmehr seinen eigenen Körper kennenlernen. „Du musst herausfinden, was dein Körper verträgt“, ist der Satz, den Katharina Walter ihren Patienten mit auf den Weg gibt.
Christina Strotmann gibt den Tipp, regional und saisonal einzukaufen – allein, um Geld zu sparen. Auch nach Angebot zu kaufen, könne helfen, die Kosten zu deckeln. Und: Hände weg von Fertiggerichten, das sagt die Beraterin für Ernährungsfragen auch. Denn die sind oftmals nicht unbedingt günstiger oder billiger, sondern viel teurer. Ein Beispiel? Christina Strotmann hat ausgerechnet: Ein Pfannengericht eines namhaften Tiefkühlkost-Unternehmens kostet 5,98 Euro für vier Personen. Kocht man das Essen selbst zusammen, liegt der Preis um ein Vielfaches darunter – bei 3,26 Euro für vier Personen.