Gelsenkirchen-Ückendorf. Dieser GGW-Neubau ist anders als alle sonst in Gelsenkirchen: Er ist auch Erinnerungsort für eine jüdische Großfamilie. Wie ein Denkmal entstand.

Bochumer Straße 167. An dieser Adresse steht ein Neubau der GGW, der Gelsenkirchener Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft. Die halbrund geführte Fassade verleiht dem geklinkerten Komplex eine besondere architektonische Note. Das Gebäude „Am Virchowbogen“ besetzt prominent das Einfalltor nach Ückendorf. 24 öffentlich geförderte Wohnungen auf 1500 Quadratmetern Fläche hat der Komplex. Alle sind vermietet. Doch das Haus ist nicht nur ein Beispiel für Baukultur. Es ist auch eine Erinnerungsstation. Im Flur des dritten Stockwerks öffnet sich buchstäblich ein Schaufenster in die Vergangenheit.

Im Treppenhaus neben dem Aufzug gibt eine raumhohe Fenstertüre den Blick auf ein „Ü“ frei. Im Flur drängen sich etliche Personen. OB Karin Welge, GGW-Geschäftsführer Harald Förster und die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Judith Neuwald-Tasbach, haben eingeladen. Es geht um die Einweihung eines besonderen Denkmals. Passend zum Stadtviertel könnte das „Ü“ für Ückendorf stehen. Doch der Buchstabe gehört zum Wort „Überzieher“.

Wandwerbung in Gelsenkirchen wurde bei Bauprojekt der GGW sichtbar

Nach dem Abriss des Vorgängerbaus tauchte die Wandwerbung auf dem Giebel des Nachbarhauses auf. Die Reklame ist nun ein Baudenkmal, an die im Neubau „Am Virchowbogen“ erinnert wird. Sichtbar blieb allerdings allein das „Ü“.
Nach dem Abriss des Vorgängerbaus tauchte die Wandwerbung auf dem Giebel des Nachbarhauses auf. Die Reklame ist nun ein Baudenkmal, an die im Neubau „Am Virchowbogen“ erinnert wird. Sichtbar blieb allerdings allein das „Ü“. © Jürgen Bergmann

Rückblende auf den Mai 2020: Für das Bauprojekt der GGW in Ückendorf muss zunächst einmal Platz geschaffen werden. Das Eckhaus Bochumer-/Virchowstraße wird abgerissen. An der Giebelwand des Nachbarhauses wird nach und nach ein alter, 7,5 mal 11,5 Meter großer Reklameschriftzug sichtbar: „Gutsitzende Anzüge & Überzieher kauft man am besten bei Alexander. Bahnhofstr 83. 1 Minute vom Hauptbahnhof“ steht in großen schwarzen Lettern auf der Ziegelmauer. Die historische Wandmalerei weist auf ein Geschäft der jüdischen Kaufmannsfamilie hin. Klar ist bald: Sie soll erhalten bleiben, aber gleichzeitig soll natürlich auch der Neubau hochgezogen werden. Der steht längst, bereits Ende Mai zogen die ersten Mieter dort ein.

Die Gebrüder Alexander betrieben an der Bahnhofstraße mehrere Kaufhäuser

Der im Original 7,5 mal 11,5 Meter großer Reklameschriftzug hängt als großformatige sogenannte Alu-Dibond-Tafel im Treppenhaus des Neubaus.
Der im Original 7,5 mal 11,5 Meter großer Reklameschriftzug hängt als großformatige sogenannte Alu-Dibond-Tafel im Treppenhaus des Neubaus. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Wir haben hier an der Bochumer Straße mit dem Virchowbogen ein weiteres eindrucksvolles Stück Zukunft gebaut. Gleichzeitig aber haben wir auch einen Ort geschaffen, um Erinnerung zu bewahren. Das ist das Besondere an dem, was wir heute vorstellen wollen“, stellt OB Welge fest. Geschichte nicht zu negieren, sondern aufrechtzuerhalten, ist ihr wichtig.

So sieht es auch Neuwald-Tasbach. Sie betont: „Die original erhaltene Werbemalerei vom Anfang des 20. Jahrhunderts ist ein sehr wichtiges Zeugnis des jüdischen Lebens in Gelsenkirchen vor dem Holocaust. Hier gab es viele jüdische Geschäfte und Kaufhäuser, die alle in der Reichspogromnacht zerstört wurden. Daher ist der Erhalt dieser Inschrift ein wichtiger Beitrag gegen das Vergessen.“

Eine Lösung mit drei verschiedenen Erinnerungsstationen erarbeitet

In Rücksprache mit dem Institut für Stadtgeschichte, der Unteren Denkmalbehörde und der Jüdischen Gemeinde wurde mit dem betreuenden Architekturbüro eine Lösung mit drei verschiedenen Erinnerungsstationen erarbeitet. Im Hauseingangsbereich des Neubaus wurde eine großformatige sogenannte Alu-Dibond-Tafel mit einem Bild der kompletten Giebelfassade montiert. An der Fassade wurde zusätzlich vom Institut für Stadtgeschichte (ISG) eine Erinnerungstafel mit QR-Code installiert, der zu einer Website mit weiteren Informationen und Bildern führt. Im dritten Obergeschoss wurde schließlich die Verglasung vor das „Ü“ gesetzt. Auf einer Tafel daneben steht der vollständige Werbetext.

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Bei Neubauten, so der GGW-Chef, rechne man ja stets mit Überraschungen und Schwierigkeiten, die seien aber „meist bautechnischer Art“. Doch der Schriftzug habe „einen außergewöhnlichen Moment in unserer Projektentwicklungsgeschichte“ gebracht. „Ich finde mittlerweile, das ist eine glückliche Fügung. Weil es aus diesem Haus ein außergewöhnliches Objekt macht, das etwas zu erzählen hat.“

Ein Blick auf Gelsenkirchen als Boomtown und Schmelztiegel

Es ist die Erfahrung von Leid und Verfolgung, Vertreibung und Tod, die jüdische Geschichte auch in Gelsenkirchen in der Zeit der NS-Diktatur kennzeichnet. Doch den Erinnerungsort versteht Daniel Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, auch als „Zeitkapsel, die auf die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in Gelsenkirchen verweist, als Gelsenkirchen als Boomtown und Schmelztiegel, als junge, blühende Industriestadt“ Menschen aus allen deutschen Regionen und den Nachbarländern anzog.

Natürlich, so Schmidt, „sehen wir mit Blick auf die jüdische Familie Alexander das Verfolgungsschicksal“ in der Zeit des NS-Terrors, aber ebenso stünden die Namen der jüdischen Geschäftsleute „auch für eine Erfolgsgeschichte. Juden haben hier für eine gewisse Zeit ihr Glück gefunden und waren mit ihren Geschäften erfolgreich.“

Zeitgeschichte: Das waren die Geschäfte der erfolgreichen Großfamilie Alexander

Die Reklame an der Bochumer Straße ist um 1910 auf den Hausgiebel gemalt worden. Sie wies auf das Bekleidungsgeschäft der Brüder Jakob und Friedrich Alexander hin. Anfang des 20. Jahrhunderts zog es sechs der acht Kinder Alexander aus dem ostwestfälischen Werther nach Gelsenkirchen.

Hugo Alexander ließ sich als Arzt an der Bahnhofstraße nieder, die anderen Alexanders waren als Kaufleute tätig, hat das Institut für Stadtgeschichte recherchiert. Jakob und Fritz konnten ihr Kaufhaus, für das sie auf der Brandmauer an der Bochumer Straße Werbung machten, bald erweitern. Später kauften sie, auch an der Bahnhofstraße gelegen, das weithin bekannte Kaufhaus Carsch & Co. In der Nähe eröffneten die Alexanders ein weiteres Kaufhaus, das KaPe Kleinpreisgeschäft.

Mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten geriet die jüdische Familie unter Druck. Sie wurde entrechtet. Im April 1938 mussten die Brüder ihre Geschäfte weit unter Preis verkaufen. Noch im selben Jahr flohen Jakob und Fritz sowie ihre Schwester Johanna mit ihren Familien nach Brasilien, Alex und Hugo Alexander wanderten in die USA aus. Die älteste Schwester Lina Alexander starb 1939, sie wurde in Gelsenkirchen beigesetzt.

1938 emigrierten die Brüder nach Brasilien und in die USA

Beim Abriss des Eckhauses in Ückendorf tauchte die alte Reklameschrift an der Giebelwand auf.
Beim Abriss des Eckhauses in Ückendorf tauchte die alte Reklameschrift an der Giebelwand auf. © Gitta Witzke

Der junge Kaufmann Hubert Kogge kaufte jüdischen Inhabern verschiedene Geschäfte ab, auch in Gelsenkirchen erwarb er das „Spezialgeschäft für Herrenkleidung“ an der Bahnhofstraße 48-52 und das Geschäftsgrundstück Von-der-Recke-Straße 35 von den Brüdern Alexander. Der Kauf des Carsch-Hauses ist für den 2. April 1938 von einem Bocholter Notar beurkundet. Der Preis wurde auf eine Million Reichsmark festgelegt.

Der frühere ISG-Leiter Heinz Jürgen Priamus hat die Geschichte der Alexanders als eine von zehn Fallbeispielen in dem von ihm herausgegebenen Buch „Was die Nationalsozialisten ,Arisierung’ nannten“ detailliert nachgezeichnet. Die Recherche lieferte auch die Basis für den Text auf der Erinnerungstafel auf dem Wohnhaus in Ückendorf.

Entschädigung wurde von Kogge 1950 gezahlt

Keines der 17 Mitglieder der Familie Alexander kehrte nach 1945 nach Gelsenkirchen zurück. Die hiesige jüdische Gemeinde steht noch in Kontakt mit den Nachfahren, weiß ISG-Leiter Daniel Schmidt. 1948/49 begannen Restitutionsverfahren. Friedrich und Jakob Alexander forderten Entschädigung, auch für ihr ehemaliges Kaufhaus Carsch. Vor dem Wiedergutmachungsamt beim Landgericht Essen einigten sich die Brüder Alexander und Hubert Kogge 1950 auf eine Zahlung von 380.000 Mark und verzichteten als Kläger auf weitergehende Forderungen.