Gelsenkirchen. Die IHK sieht durch die Energiekrise viele Firmen und Tausende Jobs bedroht. Was sofort helfen soll. Und welche Rolle Gelsenkirchen dabei spielt.

Die Lagebewertung klingt dramatisch. Zahlreiche Unternehmen im Münsterland und in der Emscher-Lippe-Region fürchteten um ihre Existenz und verfolgten „mit brennender Sorge und hoher Anspannung“ die Entwicklung auf dem Energiemarkt: Für Fritz Jaeckel steht die wirtschaftliche Stärke der Region auf dem Spiel. Der IHK-Hauptgeschäftsführer stellte Montag ein bundesweit bei der IHK-Vollversammlung abgestimmtes Zehn-Punkte-Sofortprogramm vor – mit Maßnahmen, die nötig seien, um die ökonomische Basis im Kammerbezirk Nord Westfalen zu erhalten. Und er erläuterte, welche Rolle das sogenannte Gelsenkirchener Modell spielen könnte.

BP und Sabic: Chemische Industrie in Gelsenkirchen stark betroffen

„Eine schnelle Ausweitung des Energieangebots und eine sofortige Entlastung der Unternehmen“ sind aus Sicht der IHK „zwingend erforderlich“. Den Weg dahin skizziert die auf dem Deutschen Industrie- und Handelskammertag verabschiedete Resolution zur Energiekrise. Die Hauptpunkte: Gefordert wird, alle verfügbaren Öl-und Kohlekraftwerke umgehend zurück in den Markt zu holen. Für die Zeit der Krise sollen die verbliebenen deutschen Atomkraftwerke weiterbetrieben werden. „Niemand fordert die Rückkehr zur Kernenergie“, verdeutlicht der IHK Hauptgeschäftsführer, es ginge allein darum, „die Situation für die Jahre 2022, ‘23 und ‘24 beherrschbar zu halten“.

Fritz Jaeckel, IHK-Hauptgeschäftsführer im Kammerbezirk Nord Westfalen: „Niemand fordert die Rückkehr zur Kernenergie, aber wir müssen die Situation beherrschbar halten.“
Fritz Jaeckel, IHK-Hauptgeschäftsführer im Kammerbezirk Nord Westfalen: „Niemand fordert die Rückkehr zur Kernenergie, aber wir müssen die Situation beherrschbar halten.“ © FUNKE Foto Services | Bernd Thissen

Das Positionspapier, das laut Jaeckel „mit überwältigender Mehrheit“ angenommen wurde, fordert ferner einen Zuschuss zu den Netzentgelten, die Aussetzung der CO-2-Bepreisung bis Ende 2024 und die Option für die Betriebe, nicht verbrauchte Gas- und Stromkontingente an den Markt zurückzugeben. Weitere Punkte betreffen die „Entbürokratisierung beim Ausbau erneuerbarer Energien“ und die Vermeidung anfallender Zusatzkosten wie „die neu eingeführte Gasbeschaffungsumlage und andere schon länger bestehende Stromumlagen“. Sie sollten allesamt aus dem Bundeshaushalt finanziert werden.

Energiepreise sind zehnfach höher als beispielsweise in den USA

Derzeit, stellt die IHK fest, versuchten die Unternehmen „irgendwie über die Runden zu kommen in der Hoffnung, dass 2023 die Energiepreise wieder nachgeben und es mit einmaligem Aufwand zu schaffen.“ Doch das fresse mindestens „die Gewinne des Vorjahres und des laufenden Jahres auf.“ In Deutschland und Teilen Europas lägen die Energiepreise um den Faktor zehn höher als beispielsweise in den USA oder (beim Strom) in Frankreich.

Wer im laufenden Jahr noch mit 800.000 Euro Energiekosten kalkuliert habe, müsse 2023 mit 8 Millionen rechnen. In Deutschland, so Jaeckel, werde so „die Wettbewerbsfähigkeit ganzer Industriezweige akut gefährdet“. Neben der zeitweiligen oder dauerhaften Stilllegung von Betriebsteilen planten laut Jaeckel immer mehr Unternehmen auch die Verlagerung der Produktion ins Ausland.

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Die IHK Nord Westfalen liefert die Zahlen zur Aussage für den Kammerbezirk: Rund 500 von 1571 Industriebetrieben im Jahr 2021 seien besonders energieintensiv, etwa 100 zählten zu den Branchen Glas, Keramik, Zement sowie fast 100 seien metallverarbeitende Betriebe oder Hersteller von Back und Teigwaren. Zusammen stünden sie für 50.000 Arbeitsplätze, davon allein an die 20.000 in der chemischen Industrie, in Gelsenkirchen beispielsweise bei Sabic oder in den BP-Raffinerien.

Deutscher Städtetag empfiehlt bundesweit Gelsenkirchener Modell

Eine drohende Gasmangellage trieb Gelsenkirchener Unternehmen bereits im Juni um. Sie entwickelten im Dialog mit der ELE als Netzbetreiber Strategien gegen einen Gas-Lieferstopp. Ansatzpunkte definierten sie auf drei Feldern: 1. Einsparungen. 2. Substitution, also den Einsatz alternativer Energieträger zu Erdgas. 3. Freiwillige Beiträge durch befristete Senkung der Produktion und damit des Gasverbrauchs. „Wartungen und Reparaturen oder Betriebsferien könnten zum Beispiel“ untereinander abgestimmt werden. Das würde den Mengen-Druck im Fall eines akuten Gasmangels im kritischen Zeitraum verringern, zeigte sich der Gelsenkirchener Unternehmer und IHK-Vizepräsident Lars Baumgürtel bereits im Juli sicher.

40 lokale Unternehmen wollen sich abstimmen. Doch die Runde wird größer. Firmen in Gladbeck und Bottrop werden auch freiwillige Beiträge leisten – wie wohl rund 60 Prozent der von der IHK angeschriebenen betrieblichen Energiekunden im Kammerbezirk sich vorstellen können, Verzicht zu üben. Mitte November, so Jochen Grütters, Leiter des IHK-Standorts Emscher-Lippe in Buer, wolle man die Schritte konkretisieren. „In Münster wird das Modell als „sehr sinnvoll angesehen“, betont der IHK Hauptgeschäftsführer. Als „empfehlenswerter Weg“ habe der Deutsche Städtetag es „allen Kommunen in Deutschland“ zur Nachahmung empfohlen.

Einsparpotenzial für 40 Gelsenkirchener Unternehmen

Was Verzicht und Solidarität theoretisch allein mit dem Gelsenkirchener Modell bringen könnten, rechnet die IHK vor: Die 40 betroffenen Unternehmen wie Zinq, Trimet, BP oder Müller’s Mühle hätten ihren Energiebedarf bislang rechnerisch bereits von 63 auf aktuell 52 Megawatt gedrosselt.

Ihre Botschaft lautet: „Wir werden in dieser Region auf unter 50 Megawatt kommen.“ Zum Vergleich: Mit sechs Megawatt können hochgerechnet aufs Jahr etwa 3500 Haushalte mit Strom versorgt werden.