Gelsenkirchen. Grundrecht oder Rechtsbruch? Gelsenkirchens Clearingstelle hilft Rumänen und Bulgaren bei Fragen zur Krankenversicherung – und sorgt für Streit.
Eingeführt wurde sie 2016, um vor allem zugewanderten Menschen aus Ländern wie Rumänien oder Bulgarien bei Unklarheiten zu ihrer Krankenversicherung zu beraten, nun deutet sich an, dass die Arbeit der sogenannten Clearingstelle in Gelsenkirchen langfristig erhalten bleiben wird: „Wir haben sehr konstruktive Gespräche mit dem Land geführt“, sagt Sozialdezernentin Andrea Henze. „Ich bin optimistisch, dass es auch nach dem April 2023 weitergehen kann.“
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Dann wäre die Landesförderung für die Adresse zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung bei Ausländern eigentlich ausgelaufen. Dass es nun sehr wahrscheinlich doch in der bewährten Form weitergeht, ist für Henze „ein großer Gewinn“, wird allerdings nicht jeden erfreuen: Insbesondere die Gelsenkirchener AfD läuft Sturm gegen die Clearingstelle. Sie sieht in ihr nicht weniger als eine „Brutstätte des Unrechts“. Bestärkt sieht sich die rechte Partei damit durch neue Zahlen, die sie bei der Verwaltung erfragt hat.
Unversicherte Südosteuropäer: So oft wurde die Gelsenkirchener Clearingstelle tätig
Der beantworteten Anfrage zufolge ist die Clearingstelle seit ihrer Eröffnung vor fast genau acht Jahren in rund 5880 Fällen eingeschaltet worden, von denen 92 Prozent erfolgreich bearbeitet wurden. Dabei ging die Initiative in rund 3520 Fällen von EU-Bürgern aus, in 57 Fällen von Leistungserbringern, also Arztpraxen, Krankenhäusern oder Therapeuten, und in 2310 Fällen von Dritten. Die Clearingstelle selbst war in keinem einzigen Fall der Initiator, sie geht also nicht selbst auf die Menschen zu.
In 212 Fällen scheiterte die Klärung der Versicherungssituation an der fehlenden Mitwirkung der Betroffenen. Diese hatten in neun von zehn Fällen eine rumänische Staatsbürgerschaft. Pikant in Augen der AfD: In null Fällen informierte die Clearingstelle die Ausländerbehörde über eine fehlende Krankenversicherung.
AfD Gelsenkirchen: „Mit der Clearingstelle festigen wir Nährboden für Armutszuwanderung“
Denn gesetzliche Voraussetzungen für die Wahrnehmung des Freizügigkeitsrechts innerhalb der Europäischen Union ist bei nichterwerbstätigen EU-Bürgern eigentlich, dass überhaupt ein ausreichender Krankenversicherungsschutz vorliegt. Das heißt vereinfacht gesagt: Wer aus anderen EU-Ländern nach Deutschland kommt, sollte dies krankenversichert tun. Wer dies nicht macht, läuft Gefahr, sein Freizügigkeitsrecht zu verwirken.
Dass die Clearingstelle das Ausländeramt, das den Verlust der EU-Freizügigkeit feststellen kann, nicht über all die ihr bekannten unversicherten Fälle informiert, ist der AfD ein Dorn im Auge. „Mein Staatsverständnis sieht vor, dass wir Menschen aus dem karitativen Bereich nicht mit Steuergeld unterhalten, damit sie anderen dabei helfen, Gesetze zu brechen!“, formuliert es Enxhi-Seli Zacharias, integrationspolitische Sprecherin der AfD-Landtagsfraktion und Abgeordnete aus Gelsenkirchen. In ihren Augen werden für Menschen aus Rumänien oder Bulgarien ohne Job damit nur noch mehr Anreize geschaffen, nach Gelsenkirchen zu kommen. „Mit der Clearingstelle festigen wir Nährboden für Armutszuwanderung.“
Gelsenkirchener SPD: „Die Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht!“
Ganz anders sieht das Martina Rudowitz, stellvertretende Vorsitzende der SPD in Gelsenkirchen. „Wenn die Menschen hierhinkommen, dann haben wir auch die verdammte Pflicht, uns um sie zu kümmern. Die Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht!“, macht Rudowitz unmissverständlich klar. Gerade für die vielen unversicherten Kinder der südosteuropäischen Familien sei dies bedeutsam. „Es ist ja wichtig, dass diese Kinder genauso abgesichert sind und die gleichen Leistungen bekommen wie alle anderen Kinder."
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Die Existenz der Clearingstelle habe sich in der rumänischen oder bulgarischen Community herumgesprochen, ein Anziehungsfaktor für mehr Migration sei sie aber nicht. „Es ist eine Mär, dass die Menschen alle nur kommen, um die sozialen Errungenschaften in Deutschland zu erwerben.“ Vielmehr sei die Clearingstelle auch für die Integrationsaufgaben der Stadt förderlich, weil dort Erstkontakte mit den Menschen aufgebaut werden könnten. „Dort werden viele Kontakte geknüpft“, sagt Rudowitz.
Dass sich die Clearingstelle nicht mehr mit dem Ausländeramt austauscht, um Informationen zur Feststellung des EU-Freizügigkeitsrechts zu vereinfachen, hält die SPD-Politikerin zudem für richtig. „Dort wird absolut auf vertraulicher Basis gearbeitet“, sagt sie. Es gehe schließlich um Gesundheitsfragen und damit um sensible Informationen. „Das sind Fragen der Vertraulichkeit.“
Gelsenkirchens Sozialdezernentin: Finanzierung der Clearingstelle ist Anerkennung für die Stadt
Insgesamt bewertet Rudowitz die Arbeit der Clearingstelle deshalb als sehr bedeutend. „Sie hat sich sehr stark bewährt!“ Dies würde die Fallzahl zeigen. Rund 1200 Fälle werden im Jahr durchschnittlich von der Stelle geklärt; rund 2400 Beratungen werden durchschnittlich im Jahr durchgeführt. Viele kommen also mehrmals vorbei, Kontakte könnten sich so festigen, meint Rudowitz, die nun auch stark hofft, dass das Land die Clearingstelle weiter mitfinanziert. Und damit ganz auf der Linie von Sozialdezernentin Andrea Henze liegt. Auch sie betont noch einmal: „Die Clearingstelle ist das Eintrittstor, da passiert viel mehr als nur die rechtliche Klärung. Sie ist ein Erstkontakt für die Integrationsarbeit. Wenn sie sich verstetigt, dann ist das eine Anerkennung für eine Stadt, die so viele Sozialherausforderungen leistet wie Gelsenkirchen.“
Wer in der Clearingstelle arbeitet
Das Personal der beim Diakoniewerk Gelsenkirchen und Wattenscheid angesiedelten Clearingstelle setzt sich nach Angaben der Stadt zusammen aus einer Projektleitung mit 28 Wochenstunden, einer Beratungskraft mit 30 Wochenstunden und zwei Übersetzungskräften mit jeweils 19,5 Wochenstunden. Im Jahr 2021 sind Personalkosten in Höhe von rund 170.000 Euro entstanden.
Die Personal- und Sachkosten für den Betrieb werden zu 80 Prozent aus Zuwendungen des Landes und zu 20 Prozent aus Eigenmitteln der Stadt Gelsenkirchen finanziert.
In NRW gibt es fünf Clearingstellen: neben Gelsenkirchen auch in Dortmund, Duisburg, Köln und Münster.