Gelsenkirchen. Beim letzten Sommerspezial der Serie „Gelsenkirchener Stadtgeschichte(n)” erinnern sich Leser an Erlebtes im Bezirk Ost.

„Unser Balkon war immer so voller Leute, dass viele Gäste auf Bierkisten auf dem Vordach gesessen haben.” Vom Café an der Cranger Straße aus blickt Wilhelm Schröer hinüber zu seiner Wohnung. Vor 47 Jahren ist er dort eingezogen. Seine Partys zum Rosenmontagsumzug seien seither legendär. Damit habe er es sogar in überregionale Medien geschafft. Es ist die ganz persönliche Stadtgeschichte des Erlers, die zu erzählen er heute gekommen ist – beim letzten Sommerspezial unserer WAZ-Sommerserie „Stadtgeschichte(n)”.

Wilhelm Schröer ist bei jeder Rosenmontags-Party in der ersten Reihe mit dabei. „Ich habe auch selbst Programm gemacht und Musik gespielt.” Damit ist er natürlich bald bei den Jecken bekannt. Der kleine Balkon wird im Vorüberfahren von allen Gesellschaften mit herzlichen Grüßen bedacht. „Bislang war ich alle Jahre am Start. Nur einmal war ich zur Kur – da hat meine Frau die alle reingelassen”, erzählt er.

Als es von der Polizei Ärger für das Karnevalskostüm gab

An einen Rosenmontag kann er sich ganz besonders gut erinnern: Da geht er als Polizist, hat sich eine ausgediente Uniform besorgt – und erregt gleich das Aufsehen der echten „Kollegen”. Und deren Ärger. „Der eine sagte zu mir, wo haben sie die Uniform her? Dir dürfen sie nicht anhaben.” Dann lacht der Erler. „Die anderen auf dem Balkon hatten alle Angst, dass ich jetzt verhaftet werde.” Wird er nicht. Aber er muss die Uniform ausziehen und abgeben. „Einen Tag später ruft mich meine Frau auf der Arbeit an und sagt, die Herren waren da, haben sich entschuldigt und die Sachen wiedergebracht.”

Bezirksbürgermeister Wilfried Heidl erinnert sich gerne an die Kartoffelbauern im Stadtteil zurück.
Bezirksbürgermeister Wilfried Heidl erinnert sich gerne an die Kartoffelbauern im Stadtteil zurück. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Früher sei hier vieles anders gewesen, berichten die Erler. „Alle trauern bis heute dem Freibad Grimberg hinterher”, weiß Bezirksbürgermeister Wilfried Heidl. „Das ist ja irgendwann durch Bergschäden kaputt gegangen und musste geschlossen werden. Aber ich selbst war noch mit meinem Sohn da schwimmen.”

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„Meine Verwandten waren dort Bademeister”, sagt Schröer und lacht. Dann erzählt er, dass ihn seine Familie auch beruflich in dieser Branche gesehen habe. Er sich selbst aber nicht. Dennoch habe er als Jugendlicher viel Zeit dort im Freibad verbracht. „Und meine Mutter brachte uns immer das Essen dahin. Eine andere Verwandte saß an der Kasse, die ließ sie immer so durchgehen.”

An ihre Kindheit und Jugend in Erle erinnern sie sich alle gern. „Als Kinder haben wir die Bauern nach der Kartoffelernte immer gefragt, ob wir nachlesen dürfen”, erzählt Wilfried Heidl. „Dann haben wir ein Feuer gemacht, die Kartoffel aufgespießt und gebraten. Das war für uns ein Festmahl – und ein Abenteuer.” Einmal nämlich sei sogar die Polizei gekommen. Da haben sich die Jungs schnell in die Büsche geschlagen und versteckt. „Als die Luft wieder rein war, haben wir die Kartoffeln natürlich geholt und gegessen.”

„Zechenschließungen waren für Erle eine Katastrophe“

Günther Brückner hat sich immer gerne am Vereinsleben in Erle beteiligt.
Günther Brückner hat sich immer gerne am Vereinsleben in Erle beteiligt. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Im Jahr 1968 ist Günther Brückner nach Erle gezogen. Es ist die Zeit der Kohlekrise. Erste Zechen schließen. „Da gab es hier in Erle Trauerzüge mit schwarzen Fahnen. Die Stilllegung war für Erle eine Katastrophe. Die großen Arbeitgeber waren damals die Zeche und das Sozialwerk St. Georg. Das hat sich ja alles verändert.”

Was den Stadtteil damals noch prägt ist das rege Vereinsleben. An dem wirkt auch der Wahl-Erler einst mit. „Wir hatten eine Tanzgruppe: die Barbaraner”, erzählt er, der auch selbst mit aufgetreten ist. „Wir haben Volkstänze getanzt und Square-Dance, sind aber auch im Karneval aufgetreten. Wir sind oft mit der Erler Sängerin Ilona Goldstein aufgetreten. Sie hat gesungen, wir haben getanzt.“ Das Leben bot viel, damals in Erle.

Die Disco im Hinterraum der Wirtschaft Achenbach

Birgit Meurer erinnert sich gerne an das alte Erle zurück, in dem es „alles“ gab.
Birgit Meurer erinnert sich gerne an das alte Erle zurück, in dem es „alles“ gab. © FUNKE Foto Services | Christoph Wojtyczka

Im Alter von elf Jahren kommt Birgit Meurer dort an. „Hier in Erle gab es alles. Man musste nirgends anders hin. Es gab gute Textilgeschäfte, da konnte man sich schick einkleiden.” Ob das erste Ballkleid oder gar ein Hochzeitskleid: Alles habe man kaufen können – und anwenden können. „Man konnte gut tanzen gehen. Es gab hier die Wirtschaft Achenbach. Die hatten im Hinterraum eine Diskothek. Alle von unserer Schule sind zu Achenbach gegangen.” Vor allem, weil Birgit Meurer mit der Tochter des Wirtes in eine Klasse geht.

„Für Jugendliche gab es keinen Alkohol. Wir haben Cola getrunken und Fanta. Und jeder war auf der Tanzfläche. Gespielt wurde Musik quer durch den Garten. Dazu tanzte man Discofox.” Es ist auch die Kennenlern-Börse im Ortsteil. Freundschaften werden geschlossen. „Und viele Paare haben sich bei Achenbach auf der Tanzfläche gefunden. Das war eine schöne Zeit.”

Eine ganz andere, aktuellere Stadtgeschichte haben zwei Frauen am Nebentisch zu erzählen. Sie treibt die Sorge um ihr Gardinenfachgeschäft „Alara” um. Dringend suchen sie einen Raumausstatter. Weil der bisher nicht zu finden ist, befürchtet die Inhaberin, Seher Aydin, das Geschäft zum Jahresende schließen zu müssen.

Dabei hat der Laden eine schöne Geschichte. „Als bei Dieler die Gardinenabteilung geschlossen wurde, hat sich eine Kollegin selbstständig gemacht”, erzählt Barbara Schliff. „Mich hat sie als Näherin mitgenommen. Alle Angestellten waren früher bei Dieler.” Starke Erler Frauen also, die der Entwicklung am Ort etwas entgegensetzen.

Als sich dann die ursprüngliche Inhaberin zur Ruhe setzt, ist die Zukunft des Geschäftes erstmals bedroht. „Da habe ich vor vier Jahren Seher Aydin kennengelernt in der Bäckerei Zipper. Ich habe ihr meine Geschichte erzählt und sie hat ganz spontan gesagt: Damit du nicht deine Arbeit verlierst, übernehme ich das Geschäft und mache weiter.” So war und ist das in Erle...