Gelsenkirchen. „Wir hatten nichts, waren mit allem zufrieden“: Für das Sommerspezial der „Stadtgeschichte(n)“ erinnern sich WAZ-Leser aus Gelsenkirchen- Mitte.
„Hüllen war ein Arbeiterstadtteil, geprägt vom Schalker Verein. Mit allem, was dazu gehört: Stall, Kaninchen, Tauben. Wir haben immer gesagt, wenn der Schalker Verein die Order gibt, alles Material zurückzubringen, dann fallen alle Kleingärten zusammen”, sagt Lothar Urban und lacht. Wie etliche andere ist er heute ins „Schloß Stolzenfelz” gekommen, um auf Einladung der WAZ seine ganz persönlichen „Stadtgeschichte(n)” aus dem Bezirk Mitte zu erzählen.
Die Konfession war unwichtig, das Parteibuch nicht
Lothar Urban engagiert sich seit 38 Jahren für seinen Stadtteil auch in der Kommunalpolitik. „Da bin ich rein geboren worden. Mein Vater Heinz war 13 Jahre lang Landtagsabgeordneter. Da war die ganze Familie involviert.” Vor allem, als der Vater die Falkenjugend gründet, sich einsetzt für junge Menschen im Stadtgebiet. „1968 bin ich in die SPD eingetreten.” Auch für ihn ist das selbstverständlich. Seine künftige Frau hat eine andere Konfession, doch das spielt keine Rolle. Wichtig ist dem Vater nur, dass sie vor der Hochzeit in die Partei eintritt.
Gern denkt Lothar Urban an seine Jugend zurück. „Ich bin Baujahr 1950. Wir haben als Kinder auf der Straße gespielt. Da gab es zum Beispiel das schöne Spiel: Pinnchen kloppen.” Ein Schlagspiel, wie er erklärt. „Oder Rollschuh-Hockey.” Die Straßen sind den Kindern eine besondere Welt. „Da waren 50, manchmal 80 Kinder draußen. Und die Menschen in den Siedlungen haben alle abends vor den Häusern gesessen und sich unterhalten. Die Gemeinschaft war eine andere.”
„Der Zusammenhalt war das A und O. Einer war für den anderen da“
„Wir hatten nichts, aber wir waren mit allem zufrieden”, sagt Marion Thielert. Die Bezirksbürgermeisterin hat in ihrem Bezirk die Patenschaft für die Sommerserie der WAZ übernommen und steuert gern eigene Erinnerungen bei. „Der Zusammenhalt war das A und O. Einer war für den anderen da. Ich erinnere mich gut: Bei uns im Haus wurde immer in einer Familie für alle gekocht und so ging das reihum.”
Frauen warteten am Zechentor auf ihre Männer - und die Lohntüte
Aufgewachsen ist Marion Thielert an der Parallelstraße in Schalke. Im Schatten der Zeche Graf Bismarck 1 / 4. „Wenn ich heute als Bezirksbürgermeisterin dort bin, ist das ein besonderes Gefühl. Weil ich als Kind so oft mit meiner Mutter da war. Dreimal im Monat standen die Frauen am Tor und warteten auf die Männer – immer, wenn es Lohn gab. Wenn sie die Lohntüte nicht gleich an sich nahmen, nahmen die Männer die mit in die nächste Kneipe.” Lesen Sie auch: Geschichten über Ziegen im Bett
Lothar Urban lacht: „Es gab Frauen, die wussten gar nicht, was ihre Männer verdienen. Die haben die Lohntüte mitgenommen in die Wirtschaft und erst einmal ihren Deckel bezahlt.” Da fällt ihm eine Anekdote ein: „Ich kann mich an eine Frau erinnern, die bat den Betriebsrat dafür zu sorgen, dass ihr Mann am Zahltag den Vorderausgang nimmt. Der nahm nämlich immer den Hinterausgang – mitsamt seiner Lohntüte.” So sei das damals gewesen. „Und heute wird das Geld aufs Konto überwiesen und wir Männer müssen fragen, ob wir etwas bekommen.”
Inklusive Schrebergartenjugend mit Tanzgruppe
Gerd Podschadly erinnert sich besonders gern an die vielen Jahre seines Engagements für den Kleingartenverein Trinenkamp. Dort hat er mit seiner Familie früh sein eigenes Gärtchen. „Aber da wurde nichts für die Kinder angeboten. Da haben wir eine Schreberjugend gegründet.” Los geht es mit nur vier Kindern. Den eigenen und denen von einem Gärtner-Freund.
„Zehn Jahre später hatten wir 55 Kinder bei uns.” Mit denen unternimmt man vieles, ist oft unterwegs. Als die Kinder tanzen wollten, wurde auch dieser Wunsch erfüllt. „Unter der Schirmherrschaft von Frank Baranowski haben wir das ganz groß aufgezogen.” „Das Besondere daran ist, es sind auch Kinder mit einem Handicap dabei”, ergänzt Marion Thielert. „Denn diese Kinder gehören in die Mitte der Gesellschaft.” Eine Initiative, die so einzigartig sei, erzählt Gerd Podschadly. Seine Frau Rosemarie leitet die Gruppe bis heute.
Ursula Günther: Der Klüngelskerl kam mit Äffchen – eine Attraktion!
Ursula Günther hat gleich ihr ganzes Familienalbum mitgebracht. Mit dem Aufschlagen der ersten Seite beginnt sie zu erzählen. „Ich bin 1950 in Thüringen geboren. Mein Vater ist nach Gelsenkirchen geflohen.” Hier findet er zunächst im Stadthafen Arbeit, lässt die Familie mit den drei Kindern nachkommen.
Bald fasst er Fuß, wird Handelsvertreter für Farben. Ein Bild zeigt die kleine „Uschi” mit ihrer Freundin Martina im Stadtgarten. Nur eines von vielen Bildern, die Freizeitaktivitäten der Familie in der Natur abbilden. „Das war die Nachkriegszeit, da gab es nicht viel.”
„Bei uns kam immer ein Klüngelskerl, der hatte ein echtes Äffchen, das auf dem Wagen rum turnte”, erinnert sie sich. Für die Kinder im Quartier ist das eine echte Attraktion.
Familienfotos mit den Brüdern Gerhard und Siegfried und den Eltern Ilse und Hans gibt es viele. Eines dokumentiert einen Spaziergang am Schloss Berge, ein anderes das Weihnachtsfest 1953. Bei dessen Anblick lacht Ursula Günther. „Ich wollte immer die Fondant-Sterne haben. Die habe ich meinen Brüdern vom Teller geklaut.”
Für eine besondere Stimmung im weihnachtlichen Bulmke hätten damals auch die nahe gelegenen Stahlwerke gesorgt. „Da wurde nachts abgefackelt. Und meine Brüder sagten immer zu mir: Das Christkind backt Plätzchen.”
Margarete Hollander: Als der Großcousin aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam
„Meine Geschichte spielt 1949. Da war ich sieben Jahre alt und schon in der Schule”, erzählt Margarete Hollander. „Ich hatte nachmittags Schule. Das war damals so. Wir hatten wenig Lehrer und so wurden die Kinder aufgeteilt.” Die einen gehen damals vormittags, die anderen nachmittags in die Schule.
„Ich habe mich gerade für die Schule fertiggemacht. Ich weiß noch genau, meine Mutter war in der Waschküche. Es war Waschtag. Da habe ich sie den ganzen Tag nicht gesehen.” Es klingelt an der Türe. „Ich öffne und da steht ein ganz komischer Mann vor mir. Der hatte so dicke Sachen an, stark gefütterte Kleidung, ganz eigenartig.”
Der Mann fragt nach der Mutter des Mädchens. Das läuft los, die Mama zu holen. „Die sieht ihn und ruft aus: Ach, der Herbert.” Es ist der Neffe der Mutter, erst jetzt entlassen aus russischer Kriegsgefangenschaft.
Zur eigenen Mutter in der Ostzone, in Jena, will er nicht, zieht gleich nach Gelsenkirchen. „Mit den Russen wollte er nichts mehr zu tun haben.” Der Fremde findet hier eine neue Heimat – und Arbeit. „Er ist der Lehrer Herbert Brosta, der viele Jahre in Bulmke gelehrt hat und den hier ganz viele Menschen kennen.” Zumal er ein gesegnetes Alter erreicht.
„Er ist 96 Jahre alt geworden. Zu seinem 95. Geburtstag habe ich eine Rede für ihn gehalten und gesagt, die zehn Jahre, die du durch den Krieg verloren hast, hat der liebe Gott dir hinten drangehängt.”
Jochen Endres: Für das Nazi-Spalier vor der Kirche gab es für Soldaten Sonderurlaub
Jochen Endres ist mit einem Familienfoto gekommen. Es zeigt die Hochzeit seiner Eltern Hans und Hilde im Jahr 1934. Darauf steht das Paar vor dem Kirchenportal von Heilig Kreuz in Ückendorf. Davor stehen Nazis Spalier. Der Sohn weiß das zu erklären. Der Vater ist damals Soldat.
„Für die Hochzeit gab es einen Tag Sonderurlaub. Wenn man erlaubte, dass die Nazis vor der Kirche Spalier stehen, gab es einen Tag zusätzlich.” Als jüngstes von vier Kindern wächst Jochen Endres in der Neustadt auf. „Meine Mutter war fast 41 Jahre alt, als ich 1950 geboren wurde. Damals war das fast ein Unding, so spät ein Kind zu bekommen. Aber nach drei Mädchen musste ein Junge her. Ich glaube, wäre meine Mutter 60 gewesen, hätte mein Vater es auch noch versucht”, sagt der Gelsenkirchener und lacht.
„Dann kam der Junge und mein Vater war eine Woche lang verschwunden.” Zur Feier des wahr gewordenen Traumes. Wie der Vater wird auch Jochen Endres Eisenbahner. „Ich konnte nicht wählen”, sagt er. Der Vater habe das alles so arrangiert. Auch die Mitgliedschaft in der Eisenbahner-Gewerkschaft, wo sich der Sohn viele Jahre lang engagiert. Ob er selbst Züge gefahren ist? „Nee, ich war ein Schreibtischtäter.” So bleibt ihm immer Zeit für sein damals noch ungewöhnliches Hobby. „Seit 55 Jahren betreibe ich Ahnenforschung.” Mit Erfolg. Die Linie der Mutter kann er bis 1534 nachvollziehen.
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„Ich bin auch darauf gestoßen, dass mein leiblicher Urgroßvater Alfred Konstantin Fürst zu Salm-Salm ist. Der hat damals seine Dienstmagd geschwängert. Um das zu vertuschen, musste der Stallknecht sie heiraten. Als Schweigegeld hat er ein Restaurant bekommen.” Das alles, erzählt Endres, könne er belegen. Und mehr noch: „Dieser Fürst hatte mehrere Kinder. Eine Tochter war die Rosemarie. Und die hat einen Enkel der berühmten Kaiserin Sissi geheiratet.”
Ursula Reff: Warum Augustinus St. Osram genannt wurde
An einem Tisch sitzt Ursula Reff. Sie blickt die Ahstraße entlang, erinnert sich an vergangene Zeiten. „Ich bin 1970 in die Klosterstraße gezogen. Da fuhr hier noch die Straßenbahn durch die Ahstraße. Hier standen so kleine Häuser mit Arkaden. Dort haben die Leute auf die Bahn gewartet. Und hier, vor der Kirche, ging es einen Hang hoch auf eine Wiese. Da standen auch Bäume. Und wenn man da hochging, war es, als komme man in eine andere Welt.” Lesen Sie auch: Volkshaus Rotthausen im Wechsel der Zeiten
Viel habe sich verändert. An der Ahstraße und an der Klosterstraße. Auch das Haus, in dem Ursula Reff lebt, ist einst vom Abriss bedroht. Aber die Bewohner tun sich zusammen, verhindern die Pläne der Stadt. „Ich weiß noch, da sind Mitarbeiter rum gegangen und haben gefragt, wie und wo man sonst wohnen wolle.“ Einen anderen Ort habe man ihr schmackhaft machen wollen. „Da habe ich meine Wohnung beschrieben. - Solche Wohnungen gibt es nicht, sagt der Mann da. Und ich: Doch, sie stehen drin.”
Warum sie ihr Viertel so liebt? „Man kennt die Menschen, es ist nicht so anonym – und es ist mein Zuhause. Da sind meine Kinder geboren und aufgewachsen, mein Mann ist da gestorben. Die Wohnung verlasse ich nur mit den Füßen voraus.”
Heute sind Stadtgeschichten aus Horst gefragt
Das Sommerspezial der Serie “Stadtgeschichte(n)” zieht weiter in den Bezirk West. Schon am Mittwoch, 13. Juli, sind Leser in der Zeit von 10 bis 12 Uhr ins Textilhaus Strickling, Essener Str. 4, eingeladen. Vor Ort ist auch Bezirksbürgermeister Joachim Gill.
Willkommen sind alle Leser, die ihre ganz eigene Stadtgeschichte erzählen möchten, also Anekdoten und Erinnerungen aus ihrem Bezirk, aus ihrem Quartier. Bringen Sie gern auch Bilder aus dem Familienalbum mit, die dann vor Ort abfotografiert werden können.
Ihre freie Zeit verbringt Ursula Reff früher viel in der katholischen Gemeinde und der Kirche St. Augustinus. Sie leistet Kirchendienst, erzählt Besuchern von diesem Gotteshaus. „Früher hieß die Kirche im Volksmund St. Osram. Denn über dem Altar hingen Eisenringe und darin viele Glühbirnen.” Ein Spitzname, der dem damaligen Pastor nicht so recht gefallen habe. „Irgendwann sind die Glühbirnen dann ersetzt worden durch andere Lampen.”