Gelsenkirchen. Als es nur Kondome beim Friseur gab: Im Sommerspezial der „Stadtgeschichte(n)” erinnern sich WAZ-Leser an ihre Kindheit in Gelsenkirchen-Hassel.
Die Sonne lacht über dem Stadtteilpark Hassel. Die WAZ hat, gemeinsam mit dem Paten für den Stadtnorden, Bezirksbürgermeister Dominic Schneider, eingeladen, Geschichten aus dem Bezirk zu erzählen. Die erste jedoch, die vorbeischaut, ist eine neugierige Nutria. Sie kommt ganz nah, reckt ihren Kopf aus dem Wasser des Sees am Skaterpark und betrachtet interessiert die Besucher – wohl auf der Suche nach Leckereien.
Gekocht nach dem Krisenkochbuch aus dem Ersten Weltkrieg
„Die wurden hier in Hassel früher gezüchtet”, erklärt Egon Kopatz, der mit dem Rad vorbeigekommen ist. „In der NS-Zeit hat es eine Zucht gegeben am Hasseler Bach, zwischen den Höfen Heselmann und Kampmann.” Zu welchem Zweck? „Das Fell wurde verwendet - für die armen Leute.” Ob man auch das Fleisch gegessen habe? „Eigentlich nicht. Aber im Krieg war alles möglich.”
Die Bergleute jedoch hätten alle Tiere gehabt und wohl eher nicht zum Fleisch der Wassernager gegriffen. „Mein Vater hatte auch noch zwei Schweine”, erzählt der Hasseler. „Die alten Häuser hatten alle ein Hinterhaus. Da war das Plumpsklo und darunter die Grube. Daneben war der Schweinestall.” Die habe man aufgezogen und gemästet. „Dann kam der Schlachter.” Da haben damals dann einige mitanpacken, das Tier festhalten müssen. „Wer davon keine Ahnung hatte, dem wurde der Schweinehintern zugewiesen”, sagt Egon Kopatz und lacht schon. „Dann kam der Schlachter mit dem Bolzen – und dann versagen sofort alle Nerven. Mit unschönen Folgen für den Mann am Hinterteil.“
Die Ziege mit ins Schlafzimmer genommen
Das Fleisch wurde eingekocht. Ich weiß noch, meine Mutter hatte ein Krisenkochbuch aus dem Ersten Weltkrieg. Danach hat sie gekocht.” Schnell wird deutlich, Hunger leiden mussten die Bergmannsfamilien damals nicht. „Wir hatten rund zwölf Zentner Kartoffeln, die wir selbst eingekellert haben. Das hat für das Jahr gereicht. Zumal wir auch noch Hühner und Enten gehalten haben. Und Fleisch gab es ja nur am Sonntag.” Andere Bergleute halten damals im Stadtnorden auch Ziegen, erklärt Egon Kopatz. „Wir hatten in der Kolonie einen, der hat seine Ziege sogar mit ins Schlafzimmer genommen – also die vierbeinige.”
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Auch in den harten Jahren nach dem Krieg geht es den Bergmannsfamilien in Hassel verhältnismäßig gut. „Die Kumpel haben bis Mitte der 1950er-Jahre Care-Pakete bekommen von den Amerikanern.” Deren Inhalt? „Da war Kaffee drin, Corned Beef in der Dose, Thunfisch in der Dose und Kekse.” Also Leckereien, die damals echter Luxus waren.
An eine recht gute Versorgung in schlechten Zeiten erinnert sich auch Wolfgang Steffen. Der Hasseler hat seine Kindheit in Westerholt verbracht. „Wir waren eine sechsköpfige Familie. Mein Vater arbeitete in der Ziegelei der Zeche Westerholt.” Unweit der Wohnung hatte die Familie Grabeland auch Obststräucher, baute dort selbst Gemüse an. „Nebenan hatten die Schweine. Ich bin damals immer mit dem Bollerwagen zur Brauerei Hackert um den Trester zu holen für die Tiere. Die Nachbarn hatten auch ein Restaurant. Da sind die Leute gern hin. Die hatten das beste Fleisch.”
Ins Krankenhaus für gute Essen
Nicht nur die Gaststätte war damals eine gute Adresse für leckeres Essen, weiß Wolfgang Steffen. „Die Leute sind, wenn sie was hatten, auch gern ins Gertrudis-Hospital gegangen. Da waren damals noch die Nonnen und die hatte auch eine eigene Landwirtschaft. Da gab es immer gutes Essen im Krankenhaus.”
Machen Sie auch mit!
Das Sommerspezial der Serie „Stadtgeschichte(n)” zieht weiter in den Bezirk Mitte. Schon am Dienstag, 5. Juli, sind Leserinnen und Leser in der Zeit von 10 bis 12 in das „Schloß Stolzenfelz” an die Ahstraße 10 geladen.
Willkommen sind alle, die einmal ihre ganz eigene Stadtgeschichte erzählen möchten, also Anekdoten und Erinnerungen aus ihrem Bezirk, aus ihrem Quartier. Bringen Sie gern auch Bilder aus dem Familienalbum mit, die dann vor Ort abfotografiert werden können. Wir freuen uns auf Sie!
Noch eine Erinnerung aus Kindertagen: „Im Herbst kam der Bauer Rensing. Der brachte den Kohl und hatte auch einen Hobel dabei. Da machte man dann das Sauerkraut selbst.” Überhaupt macht die Mutter früher viel ein. „Wir sind auch zur Reifezeit mit dem Rad nach Polsum zum Bauern gefahren, haben Äpfel, Birnen und Pflaumen gepflückt. Die wurden eingemacht und das war unser Vorrat für den Winter.”
Der junge Hasseler erntete noch mehr: „Da haben wir uns Geld verdient, indem wir bei der Kartoffellese geholfen haben. Fünf Mark gab es für den ganzen Tag. Und Milchkaffee und Stuten mit Schinken und Käse. Den Geschmack habe ich bis heute noch im Mund.”
Kondome gab es nur beim Friseur
Das alles habe sich in der Mitte der 1950er-Jahre zugetragen. Zum Ende des Jahrzehnts ging der junge Wolfgang Steffen in die Lehre, schuftet auch auf der Zeche. „Ich weiß noch genau, ich habe meinen ersten Lohn gespart und meiner Mutter eine elektrische Waschmaschine gekauft.” Bis dahin musste sich die Mutter schinden und alles von Hand waschen. Zu Beginn der 1960er-Jahre aber änderten sich die Zeiten. Die Welt wurde moderner. „1960 gab es bei uns den ersten Kühlschrank. Davor haben wir alles nur im Keller kühlen können.”
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An eine ganz andere Zeit erinnert sich Dominic Schneider, denkt er an seine Kindheit zurück. „Ich bin an der Flachsstraße aufgewachsen, gleich hinter den Koksbergen.” Während die Großväter auf dem Pütt waren, war es der Papa schon nicht mehr. „Mein Vater hatte den kleinen Friseurladen und Bertlich. Der hat den Bergleuten die Haare gemacht.” Und nicht nur das: „Was ich lange gar nicht wusste und was er mir neulich erst erzählt hat: Früher gab es Kondome nur beim Friseur zu kaufen. Die waren dann besonders zum Wochenende gefragt. Meine Mutter hat dann irgendwann bei ihm angefangen – und war erst etwas entsetzt.”
Die erste beheizte Straße Deutschlands: „Die machen da Wolken“
Denkt er zurück, erinnert sich der heutige Bezirksbürgermeister an eine schöne Kindheit mit einigen Besonderheiten. „Wir hatten hier in Hassel ja die erste beheizte Straße Deutschlands.” Tatsächlich erforderte dies die Kokerei. Deren kleine Kühltürme sprühten ganzjährig Wasser auf die Valentinstraße. Um eine gefährliche Eisdecke zu verhindern, wurde die Straße beheizbar. „Ich weiß auch noch, wie ich immer an der Brücke an der Marler Straße gestanden habe, wenn ich meinen Opa von der Zeche abgeholt habe. Wie das dampfte, wenn der Koks gelöscht wurde. Früher haben die Leute dazu ja immer gesagt, die machen da Wolken.”