Gelsenkirchen. Warum Gelsenkirchen sechs Jugendheimen mehrere Wochen Zwangspause verordnet. Diese Gefahren sieht ein Erziehungswissenschaftler darin.
- Personalnot in Gelsenkirchen: Sechs städtischen Jugendheimen verordnet die Stadt nun eine Zwangspause.
- Die Stadt Gelsenkirchen begründet den Personalplan mit der Finanzsituation.
- Eine wochenlange Schließung mehrere Jugendheime? Für einen Erziehungswissenschaftler ein Problem.
„Tolle Angebote für spannende Abwechslung in der Freizeit“ und „zuverlässige Betreuung“: So bewirbt die Verwaltung auf ihrer Homepage ihre acht städtischen Jugendzentren. Für sechs von ihnen gilt dies allerdings nur eingeschränkt: Die Einrichtungen schließen übers Jahr verteilt jeweils für mindestens sechs Wochen, so dass zahlreiche Kinder und Jugendliche immer wieder vor verschlossener Tür stehen. Nicht nur die Politik hält das für „ein Unding“. Ein Erziehungswissenschaftler ist überzeugt: Diese Praxis könnte Gelsenkirchen und erst recht einige Kinder teuer zu stehen kommen.
Die Information gelangte recht zufällig an die Öffentlichkeit: Als die Bezirksverordneten in West kürzlich über die Forderung der Grünen debattierten, in Horst-Süd ein Jugendheim zu etablieren, berichtete Wolfgang Schreck als Leiter des Referates Erziehung und Bildung beiläufig, dass das Jugendheim Buerer Straße in Horst-Nord regelmäßig wochenlang geschlossen werde, wenn der einzige hauptamtliche Mitarbeiter im Urlaub oder krank sei.
Stadt Gelsenkirchen begründet Stellenplan mit Finanzsituation
„Der finanzielle Rahmen bestimmt den Stellenplan“, begründete er die Verfahrensweise, die so auch in fünf weiteren Einrichtungen praktiziert werde. Nur in den Jugendzentren Tossehof (Bulmke-Hüllen) und Erich-Kästner-Haus (Erle) gebe es zwei Hauptamtliche. Man habe diesen Punkt immer wieder mal zum Thema gemacht, aber es sei „schwierig, an Personalstellen zu kommen.“
Die Schließungen wie früher durch Honorarkräfte aufzufangen, sei mittlerweile nicht mehr möglich, erklärte Schreck weiter. Denn wegen einer sehr engen Auslegung dieser Verträge durch die Deutsche Rentenversicherung und eine entsprechende Rechtsprechung stehe schnell der Verdacht einer Scheinselbstständigkeit im Raum. Die Folgen könnten hohe Nachzahlungen sein, die die Stadt an die Rentenversicherung zu zahlen habe.
Gelsenkirchens Jugendzentrums-Mitarbeiter sollen mit „Rat und Hilfe“ zur Seite stehen
Wie genau die Zwangspause in den sechs städtischen Einrichtungen umgesetzt wird und wie viele Kinder betroffen sind, erfuhr die Redaktion später auf Nachfrage. Den Vollzeit-Beschäftigten stünden tariflich 30 Urlaubstage zu, so Stadtsprecher Martin Schulmann – insgesamt also sechs Wochen. Dieser Urlaub sei dabei „so zu wählen, dass Maßnahmen in Zeiten erhöhten Bedarfs (z.B. Ferienmaßnahmen) gewährleistet sind“. Über die Zahl der Krankheitstage werde keine Statistik geführt. Von den seit Ende 2020 praktizierten Schließungen betroffen seien in der derzeitigen Coronazeit wöchentlich jeweils „durchschnittlich 50 bis 60 Kinder“ pro Jugendheim.
Welche Folgen es hat, wenn Sechs- bis 21-Jährige – so das Jugendheim-Zielpublikum – in ihrer Freizeitgestaltung über Wochen auf sich allein gestellt sind? Wenn ihnen nicht die vertrauten Mitarbeitenden „bei Problemen und Krisen“ zur Verfügung stehen, „um Rat und Hilfe zu geben“, so laut Homepage der Anspruch der Stadt?
Wissenschaftler fürchtet Nachteile besonders für Kinder aus schwierigen Verhältnissen
Volker Rohde von der Geschäftsführung der Bundesarbeitsgemeinschaft Offene Kinder- und Jugendeinrichtungen in Berlin vertritt da eine eindeutige Position: „Kinder und Jugendliche fühlen sich fallengelassen, wenn eine solche Einrichtung plötzlich für Wochen geschlossen wird“, erklärte er auf Nachfrage der Redaktion. Bei ihnen entstehe der Eindruck, Verfügungsmasse zu sein, wo sie doch eigentlich ein Bedürfnis nach Verlässlichkeit hätten. Besonders betroffen seien davon teilhabe-benachteiligte Mädchen und Jungen.
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Für Kinder aus schwierigeren Verhältnissen seien Jugendzentren oft „ein zweites Zuhause, wo sie Konflikte mit den Mitarbeitenden bearbeiten könnten“. Die Einrichtungen böten nach der Schule häufig einen seelischen Ausgleich, wenn ein Austausch mit Eltern zu Hause nicht möglich sei, etwa jetzt auch über den Ukraine-Krieg.
Experte: Entscheidung, nur eine hauptamtliche Kraft einzusetzen, ist „unnütz“
„Ältere Kinder und Jugendliche werden sich in der Schließungszeit ihres Jugendheims gemeinsam in den öffentlichen Raum begeben, die jüngeren aber wohl mehr Zeit in ihren Familien verbringen und womöglich mit ihren Problemen allein gelassen sein und Vernachlässigung erfahren. Schlimmstenfalls wird sich die Situation dort so zuspitzen, dass Erziehungshilfen nötig werden – und die sind letztlich für eine Kommune besonders kostspielig.“
Einrichtungen aus finanziellen Gründen mit nur einer hauptamtlichen Kraft zu besetzen, hält er grundsätzlich für eine „unnütze Entscheidung“. Zwar sei offene Kinder- und Jugendarbeit kein gesetzlicher Anspruch, der individuell eingeklagt werden könne – Erziehungshilfe aber sehr wohl.
Insofern spricht sich Rohde unabhängig von der Situation in Gelsenkirchen dafür aus, „lieber richtig in die präventive offene Kinder- und Jugendarbeit zu investieren“, dafür dann gegebenenfalls Mittel umzuschichten und an anderer Stelle zu sparen. Andere freie Träger – vor Ort sind das etwa der Bauverein Falkenjugend, Kirchen oder die Manuel-Neuer-Stiftung – sollten unbedingt in die Bedarfsplanung einbezogen werden, „aber man kann das Thema auch nicht einfach auf sie abwälzen“.
Stadträtin weist Schlussfolgerungen zurück
Stadträtin Anne Heselhaus weist Rohdes Schlussfolgerung als „zu pauschal“ und „monokausal“ zurück. Es sei „unredlich“, ohne Kenntnis biografischer Einzelfaktoren der vorübergehenden Schließung von Jugendzentren eine solche Wirkung zuzuschreiben. Um die Folgen zu untersuchen, müsse man konkrete Daten zugrundelegen, welche Kinder die Einrichtungen besuchen.
Genau diese erhebt Gelsenkirchen aber nicht, wie die Stadträtin auf Nachfrage mitteilt. Eltern würden einer solchen personenscharfen Statistik aus Datenschutzgründen nicht zustimmen. Welche konkreten Folgen die addiert wochenlangen Einrichtungsschließungen in Gelsenkirchen für die Mädchen und Jungen aus sozial schwierigeren Verhältnissen haben, ist derzeit also nicht bekannt.
Gelsenkirchener Jugend-Dezernentin verspricht: „Wir arbeiten an einer Lösung“
Heselhaus betont jedoch, in Zusammenhang mit der Weiterentwicklung des Jugendhilfeplans eine Analyse zur Wirkung ambulanter und stationärer Angebote vornehmen zu wollen. „Wir wollen wissen, ob und wie gut wir verschiedene Zielgruppen erreichen. Ziel ist es, dabei in einem quartiersbezogenen Ansatz viel kleinteiliger vorzugehen als bislang.“
Insgesamt wisse man in der Verwaltung die Arbeit der Jugendzentren sehr zu schätzen. „Natürlich ist es wichtig, dass die Häuser möglichst lang geöffnet sind.“ Was das Personalproblem angeht, sei man um eine Lösung bemüht. „Es liegt aber nicht nur an den Finanzen, sondern auch an dem Fachkräftemangel“, der wiederum auch den möglichen Aufbau eines Springerpools erschweren könnte, den die Verwaltung in Erwägung zieht.
Ehrenamtler einzusetzen, wie SPD-Bezirksverordnete Ingrid Husmann aus dem Bezirk West es vorschlägt, sei schwierig, da sich angesichts gesetzlicher Vorgaben zur Sicherung der Fachlichkeit und des Kinderschutzes die Anforderungen an das Personal erhöht hätten, so Stadt-Sprecher Schulmann. Mini-Jobber könnten zwar in Teilen der Angebotspalette helfen, etwa bei Hausaufgaben oder Bewegungsangeboten, aber nicht selbstständig die Öffnung einer Einrichtung gewährleisten. So bleibt Heselhaus’ Versprechen: „Wir arbeiten an einer Lösung.“
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