Gelsenkirchen. Für zwei einst in Gelsenkirchen verschüttete Seniorinnen haben die Bilder aus der Ukraine die Bombennächte von 1944 wieder lebendig werden lassen.
Wenn Margot Neumann (Jahrgang 1930) und Edith Kohlmeier (Jahrgang 1935) bei den Kriegsberichten im Fernsehen Sirenengeheul hören und die schrecklichen Bilder von Bombenangriffen sehen, ist sofort alles wieder da. Die schrecklichen Stunden im Keller des Mehrfamilienhauses an der Bulmker Straße, nachdem am 6. November 1944 Bomben ihr Wohnhaus in Gelsenkirchen so zerstörten, dass die Familien für Stunden verschüttet waren: Diese Stunden wird Margot Neumann nie vergessen.
„Ganz Bulmke hat gebrannt“
Um 14.15 Uhr, es war ein Montag, das weiß sie noch genau, heulten die Sirenen, wie so oft. Doch diesmal kam die Warnung zu spät, die britischen Bomber waren schon zu hören. Statt wie sonst in den sicheren Bunker an der Emmastraße, flüchtete die Familie mit den beiden Kindern in den Luftschutzkeller. Das Haus wurde komplett zerstört, alle Zugänge zum Keller verschüttet. Erst abends konnten Feuerwehrmänner die Frauen und Kinder aus dem Trümmerhaus retten. [Lesen Sie auch: Silvester ‘45 in Gelsenkirchen: Ohne Fensterglas und Heizung]
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Durch ein kleines Loch, das die Helfer graben konnten. „Eine korpulente Frau war dabei, die da eigentlich überhaupt nicht durchpasste. Es ging trotzdem, irgendwie“, erinnert sich Neumann. Ihre Familie hatte nun alles verloren: Nicht einmal die Koffer mit den allerwichtigsten Habseligkeiten, die man mit in den Luftschutzkeller genommen hatte wie bei jedem Alarm, konnten sie retten. „Ich war erst zwei Tage zuvor von der Kinderlandverschickung an die österreichische Grenze zurückgekehrt.
Seit zwei Tagen von der Kinderlandverschickung zurück in Gelsenkirchen
„Als Bomben auf Rosenheim fielen, hat meine Mutter darauf bestanden, dass ich zurückkomme“ erinnert sich die Seniorin, die heute im Amalie-Sieveking-Haus lebt. Auch an diese Rückfahrt aus dem Süden hat sie grauenhafte Erinnerungen. „Der Zug musste immer wieder anhalten und wir mussten uns im Graben verstecken. Die Bombenflieger griffen gezielt Züge an, wir waren ja mit Güterwaggons unterwegs. Es war schrecklich!“ [Lesen Sie auch: Was ein 19-jähriger Gelsenkirchener aus dem Krieg schrieb]
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34 Bunker in der Stadt stehen noch
Die beiden Seniorinnen sind nicht die einzigen, die sich um ihre und die Sicherheit ihrer Mit-Gelsenkirchener sorgen. Die Redaktion erreichen in diesen Tagen wiederholt Anrufe verunsicherter Bürgerinnen und Bürger, die nach zugänglichen Bunkern und Schutzräumen fragen.
Tatsächlich gibt es in Gelsenkirchen noch 34 Hoch- und Tiefbunker, davon fünf in städtischem Besitz, aber nicht betriebsbereit. 24 sind in Privatbesitz und dienen teils als Proberäume für Bands, weitere gehören der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Im Zugriff von Feuerwehr oder Zivilschutz – also als Schutzraum verfügbar – ist laut Stadt keiner. Allerdings sieht man dafür aktuell auch keinen Bedarf.
Abends, als die Familie endlich aus den Trümmern steigen konnte, die Retter die Verschütteten erreicht hatten, war es eigentlich schon dunkel. „Trotzdem leuchtete alles taghell: Ganz Bulmke hat gebrannt. Die Bomber wollten doch unser Werk hier treffen“, erzählt Neumann. Treffpunkt für die Überlebenden war in Bulmke die Hertastraße. „Doch kaum war man dort eingetroffen, kam der nächste massive Fliegerangriff.“ [Zum Thema: Als der Krieg in Gelsenkirchen begann]
738 britische Bomben gingen in jener Nacht auf Gelsenkirchen nieder
Edith Kohlmeier erging es ähnlich. Auch ihr Elternhaus an der Karl-Meyer-Straße wurde vollständig zerstört an jenem Tag. Immerhin wurde auch ihre Familie gerettet. „Ich war ja noch jünger. Am Anfang des Krieges hatte ich mich sogar gefreut, wenn es in den Luftschutzkeller ging, weil man da ja auch die anderen Kinder sah“, erinnert sie sich. Aber im Laufe des Krieges sollte sich das auch bei ihr grundlegend ändern.
Jener 6. November 1944 war einer der schlimmsten Tage für die Gelsenkirchener im Zweiten Weltkrieg. 738 britische Bomben gingen auf die Stadt nieder, legten ganze Stadtteile in Schutt und Asche. Zahlreiche Familien mussten umsiedeln, viele Häuser waren zerstört.
Heute möchte Edith Kohlmeier eigentlich gar nicht zu genau wissen, was in der Ukraine geschieht, wie die Menschen dort leiden und sterben. „Ich darf mich nicht aufregen, dann werden meine Schmerzen unerträglich. Aber es gelingt mir nicht, den Krieg ganz auszublenden, immer wegzuhören“, gesteht sie.
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Margot Neumann verfolgt die Nachrichten trotz des Grauens und ist entsetzt: „Wir wissen ja, wie sich das anfühlt. Auch, wenn man alles verliert und flüchten muss. Wir sind bis zum Oktober 1945 nach Lemgo ausquartiert worden, sind dann erst zurückgekommen. Aber wenn es heute noch mal Krieg bei uns gäbe, das wäre schrecklich: Wir könnten ja gar nicht mehr weglaufen! Und einen Luftschutzkeller oder Bunker gibt es auch nicht mehr.“
So sieht es in der Ukraine jetzt aus: Aktuelle Szenen aus der Ukraine
Auch Edith Kohlmeier, ebenfalls heute im Amalie-Sieveking-Haus daheim, flüchtete nach diesem Großangriff mit ihrer Familie, ins Dorf Belle, wo sie, dank der Kontakte ihrer Mutter, Unterkunft fanden. In einem Zimmer, sogar in einem Bett musste die Mutter mit den drei Kindern schlafen in dieser schweren Zeit. Die Mutter arbeitete beim Bauern, um die Familie ernähren zu können. Die heute 86-jährige Kohlmeier hätte nie gedacht, dass sie in ihrem Leben noch einmal in Kriegsgefahr geraten könnte.
Zweifel an der Vernunft der Welt: „Wofür soll das gut sein?“
„Wofür soll das alles gut sein? Warum ist so etwas in Europa heute noch möglich“, fragt Margot Neumann und zweifelt an der Vernunft der Welt. Es ist eine berechtigte Frage.