Gelsenkirchen-Beckhausen. Der Fund von Briefen öffnet ein Fenster in die Vergangenheit: Ein 19-jähriger junger Mann aus Gelsenkirchen-Beckhausen schreibt aus dem Krieg.

Nichts an der Geschichte, die hier erzählt wird, ist außergewöhnlich. Es gibt keine Heldentaten, keine unerwarteten Wendungen, und schon gar nicht gibt es ein Happy End. Es ist eine Geschichte, wie sie sich vor 80 Jahren tausendfach, hunderttausendfach abgespielt hat. Und wie sie sich immer noch abspielt, überall auf der Welt, überall da, wo junge Menschen auf Geheiß der „Herren des Krieges“, wie Bob Dylan sie einmal genannt hat, ihre Jugend, ihr Leben opfern müssen. Es ist die Geschichte meines Großonkels, des kleinen Bruders meiner Oma.

Meine Großmutter kommt aus einer großen Familie. 14 Kinder hat Urgroßmutter Schäfers zur Welt gebracht, zwei davon starben bereits im Kindbett. Am Ende ihres langen Lebens war meine Oma Grete zwar schwer dement, doch bis zum Schluss konnte sie, wenn sie gefragt wurde, die Namen ihrer 13 Geschwister aufzählen, wie eine Litanei: „Karl, Heinrich, Hans, Lisbeth, Maria, Hilde, Paul, Ludger, Franzis, Nina, Theo, Hubert, Agnes“. Sie scheinen robuste Gene zu haben, die Schäfers: Die meisten sind sehr alt geworden, viele starben erst in ihren Neunzigern. Karl, Paul und Ludger allerdings nicht. Sie mussten als junge Männer in Hitlers Krieg und kamen nicht zurück.

Eine Mappe mit alten Briefen lassen den Gelsenkirchener wieder lebendig werden

Lange wusste ich nicht mehr über die drei Großonkel, die ich nie kennengelernt hatte, als genau das: „Sind im Krieg gefallen“, hieß es lapidar. Wie so viele ihrer Altersgenossen. Bis mein Onkel vor einigen Monaten beim Aufräumen auf eine Mappe mit alten Briefen stieß. Das Papier war vergilbt, hatte Risse, manche Stellen fehlten. Die Schrift war zwar noch gut zu erkennen, lesen konnte man sie trotzdem nicht: Der Schreiber der Briefe, mein Großonkel Ludger Schäfers, hatte sie in der Sütterlinschrift geschrieben, so, wie man es damals in der Schule gelernt hatte. Eine Bekannte „übersetzte“ die Briefe, und nach und nach wurde aus dem bloßen Namen Ludger ein Mensch aus Fleisch und Blut.

Die Totenbrief von Ludger Schäfers.  
Die Totenbrief von Ludger Schäfers.   © Heselmann

Ludger Schäfers wurde am 25. März 1923 in Buer-Beckhausen geboren – die Stadt Buer war damals noch eigenständig –, als zweitjüngstes Kind von Johann und Elisabeth Schäfers. In der Mappe mit den Briefen findet sich auch sein Entlasszeugnis aus der Volksschule an der Horster Straße von 1937: Offenbar war er ein guter Schüler, in sämtlichen Fächern hat er entweder ein „gut“ oder ein „fast gut“ bekommen.

Ludger Schäfers’ Wunsch: „Lieber nach Russland als nach Afrika“

Was er in den Jahren nach der Schule gemacht hat, bleibt unklar. Das nächste Lebenszeichen von ihm ist ein Brief aus dem Juni 1942. Knapp drei Jahre zuvor hatte Hitlers Wehrmacht Polen überfallen und damit den Zweiten Weltkrieg ausgelöst, 1941 folgte der Angriff auf die Sowjetunion. Ludger wurde eingezogen – und berichtet in seinem ersten Brief über die Zugfahrt von Gelsenkirchen zur Kaserne in Augsburg und die Ankunft im ihm fremden Bayern. Zu diesem Zeitpunkt ist er 19 Jahre alt, und der Brief liest sich wie der Brief eines Jungen aus dem Ferienlager: „Liebe Eltern und Geschwister“, schreibt er, „die Gegend ist hier einfach herrlich. Aber man kann sie nur vom Fenster sehen. Ausgang gibt es vorläufig nicht. Es ist auch nicht schlimm, die Bayern kann man doch schlecht verstehen. Und zudem laufen hier alle Männer mit kurzen Hosen rum.“ Allzu belastend scheint das Soldatenleben nicht zu sein: „Vom Dienst habe ich noch nicht viel gespürt.“

Brief an die Eltern und Geschwister: Ludger Schäfers schrieb die Briefe in der Sütterlinschrift.
Brief an die Eltern und Geschwister: Ludger Schäfers schrieb die Briefe in der Sütterlinschrift.

Einen Monat später folgt der nächste Brief, immer noch aus Augsburg, an seinen jüngeren Bruder Theo. Ludger hat offenbar gerne im Garten seines Elternhaus gearbeitet, immer wieder erkundigt er sich nach dem Stand der Dinge bei Obst und Gemüse. „Jetzt werden wohl die Birnen an die Reihe kommen“, schreibt er. „Da wirst Du doch wohl meiner gedenken.“ Der Krieg ist nur am Rande ein Thema. „Dass der Tommy (gemeint sind die englischen Bomber, Anm. der Redaktion) jetzt öfter kommt, ist ja allerhand. Hier lässt er sich nicht sehen.“ Er könne sich freiwillig für einen Einsatz in Afrika melden, schreibt er – dort führte das „Deutsche Afrikakorps“ unter General Erwin Rommel seit 1941 Krieg. Aber das, so schreibt er weiter, sei nichts für ihn: „Lieber nach Russland.“ Er sollte seinen Willen bekommen.

Ein Skikurs mitten im Krieg

Irgendwann im zweiten Halbjahr 1942 wurde das Infanterie-Ersatz-Bataillon 316, dem Ludger angehörte, von Augsburg an die Ostfront verlegt. Zwar gibt Ludger in seinen Briefen immer „Russland“ als Absenderadresse an, tatsächlich operierte seine Einheit im Nordwesten der heutigen Ukraine. Kurz vor Weihnachten 1942 schreibt er: „Mir geht es soweit noch ganz gut. Der Russe lässt uns in Ruhe, sodass wir wenigstens ein paar Stunden an euch denken können. Hoffentlich ist dies das letzte Kriegsweihnachten, und dass wir nächstes Jahr alle zu Hause sind.“ Er erkundigt sich nach der „Weihnachtsstimmung“ daheim: „Und wenn ihr Weihnachten zur Krippe geht dann denkt an mich.“ Es klingt nach Heimweh, wenn er schreibt: „In drei Tagen ist Weihnachten und da wollen wir doch auch unseren Bunker etwas weihnachtlich machen. Sonst haben wir ja doch nichts.“

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Der nächste Brief ist datiert auf den 9. Januar 1943, und es scheint, als hätte der Krieg eine kurze Atempause eingelegt. „Ich hör’ hier seit zehn Tagen keinen Schuss, seh’ keinen Graben und brauch’ keine Wache zu schieben“, heißt es. Stattdessen absolviert Ludger einen Skikurs. „Ich bin morgens um acht bis nachmittags um drei im Gelände auf den Brettern. Aber es ist doch mal was anderes“, schreibt er an seine Angehörigen in Beckhausen. „Wenn ihr demnächst in der Wochenschau einen Stoßtrupp auch Skiern seht, bin ich dabei.“

„Es ist schrecklich. Beten wir“

Lange hält die Ruhe nicht an. Schon am 14. Januar ist die Rede davon, dass der „Russe“ wieder überall angreife. „Es wird doch Zeit, dass wir nach Hause kommen“, schreibt er wehmütig. Drei Wochen später der nächste Brief – in dem anklingt, dass der Spaß am Skifahren offenbar schon verflogen ist. „Ich hab den Kurs abgebrochen“, heißt es da. „Ich bin ein Westfale und kein Tiroler.“ Im gleichen Brief bedankt er sich für neue Handschuhe aus der Heimat – die seien gerade rechtzeitig gekommen. „Mir ist schon die ganze Haut an den Spitzen abgefroren.“ Die Nachrichten von anderen Orten scheint er mitzubekommen. „Ich bin froh, dass ich nicht in Stalingrad sitze, die armen Kerls“, schreibt er – und sorgt sich um seine Brüder. „Hoffentlich halten die Karl, Heini und Hans daheim.“

Nun werden die Briefe immer kürzer, sehen aus, als wären sie in Hast geschrieben. „Möchte Dir mitteilen, dass ich noch auf Gottes Erdboden rumlaufe“, schreibt er am 12. März 1943 an seine Schwester Nina. „Es ist schrecklich. Liebe Nina, beten wir. Sag den anderen, dass ich nicht mehr so viel schreiben kann. Vielleicht ist dies mein letzter Brief.“

Das steht im letzten Brief in die Heimat

Es war sein vorletzter, den letzten schreibt er am 18. März, einen Tag vor seinem Tod. „Möchte euch eben ein Lebenszeichen senden“, schreibt er an Eltern und Geschwister. „Was hier los ist, sagt euch das OKW (Oberkommando der Wehrmacht, Anm. der Redaktion). Mehr kann ich nicht schreiben. Es ist schrecklich. Ist gut, dass der Winter bald ein Ende hat.“ Sein letzter Satz: „Im Geist sehe ich mich im Garten arbeiten.“ Unter den Brief steht, in einer anderen Handschrift, geschrieben: „Das war der letzte Brief und Gruß“, Ludgers Mutter oder eine seiner Schwestern wird ihn hinzugefügt haben.

Einen Tag später, am 19. März, stirbt der Grenadier Ludger Schäfers, sechs Tage vor seinem 20. Geburtstag. In einem Brief, den sein Kompanieführer, ein Leutnant Stark, Ludgers Eltern schreibt, steht, dass er „durch Granatsplitter in die Brust“ gefallen sei. Er habe „Blut und Leben für die Freiheit unseres Volkes geopfert“, heißt es im damals üblichen Pathos. Bestattet sei er auf dem „Heldenfriedhof“ in Sabolottja, auf dem Gebiet der heutigen Ukraine. Wahrscheinlich liegt er dort noch heute.

Von den 14 Töchtern und Söhnen meiner Urgroßmutter lebt heute niemand mehr, niemand, der erzählen kann, was für ein Mensch mein Großonkel Ludger war, niemand, der mit ihm gesprochen hat. Aber irgendjemandem waren seine Briefe so wichtig, dass sie 80 Jahre lang verwahrt wurden. Sie geben Zeugnis von einer Zeit, in der man mit 19 Jahren nicht vor der Frage stand, wie man die Zeit zwischen Abi und Studium am besten nutzt – sondern in der man mit 19 Jahren in der Ukraine mit einem Granatsplitter in der Brust sein kurzes Leben beendete.