Gelsenkirchen. Die Personalsuche läuft nicht erst seit Corona in der ambulanten und Altenpflege besonders zäh. Gelsenkirchener Experten benennen Gründe dafür.
In der Altenpflege dauerte es im Ruhrgebiet zuletzt 180 Tage, eine Stelle zu besetzen, in der Krankenpflege 159 Tage. Laut der Job-Plattform Indeed blieb jede vierte Pflegestelle 2021 länger als zwei Monate unbesetzt. Besonders in Gelsenkirchen habe sich die Lage dramatisch zugespitzt. Demnach habe sich die Zahl der unbesetzten Pflege-Stellen seit Februar 2020 mehr als verdreifacht.
Der Personalbedarf werde hier weiter steigen, weil der demografische Wandel die Branche in die Zange nehme, prognostiziert Indeed-Ökonomin Annina Hering: „Einerseits kommen weniger neue Arbeitskräfte nach als in Rente gehen, andererseits steigt bei einer alternden Gesellschaft der Bedarf an Pflege.“ In Gelsenkirchen komme bereits jede zehnte neu ausgeschriebene Stelle aus der Pflege.
Einrichtungsleiter: In Gelsenkirchen bekommen wir neues Personal eher durch Zufall
„Wir stellen fest, dass der Markt bei Pflegefachkräften geräumt ist. Wir haben lange kaum oder gar keine Bewerbung mehr. Auf dem freien Markt bekommen wir Personal eher durch Zufall oder mit Glück. Seit Beginn der Pandemie hat sich die Situation nochmals verschärft“, bestätigt Achim Schwarz, Einrichtungsleiter des Awo Seniorenzentrums Schalke, die Einschätzung. Besonders schwierig werde die Situation. wenn laut Schwarz „kurzfristig Bedarf besteht“, beispielsweise bei einer Schwangerschaft oder wenn zeitlich befristet erkrankte Mitarbeitende ersetzt werden müssten. Weiteres Thema:Gelsenkirchenerin spricht mit alten Menschen übers Sterben
Vorbeugung gegen Engpässe: Awo bildet seit Jahren über Bedarf aus
Dennoch: Die Fluktuation im Haus mit den 163 Bewohnerplätzen ist gering. „Wir haben bei unseren Beschäftigten eine relativ hohe Verweildauer und sind froh darüber“, sagt Schwarz. Gegen Engpässe geht die Awo langfristig vor. Schwarz: „Wir spielen die Karte Ausbildung und bilden seit Jahren über Bedarf aus.“
160 Beschäftigte von der Küche über den Hausmeister bis zum sozialen Dienst hat das Haus an der Grenzstraße. Im Pflegebereich sind aktuell 62 ganze Stellen mit „ rund 80 bis 85 Personen“ besetzt. Dazu kommen allein in der Pflege derzeit 13 Auszubildende.
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Ähnlich sind die Praxiserfahrungen von Caritasdirektor Peter Spannenkrebs. Der Wohlfahrtsverband betreibt in Gelsenkirchen das Bruder Jordan Haus, das Liebfrauenstift und das Haus St. Anna.
„Wir versuchen auf verschiedenen Wegen, Bewerber zu erreichen. Da läuft auch mittlerweile viel über Social Media-Kanäle. Aber es dauert oft sehr lange, bis wir eine Stelle besetzten können“, sagt Spannenkrebs.
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Um den Beruf attraktiver zu machen, brauche es eine höhere Bezahlung, bessere personelle Ausstattung der Einrichtungen und mehr Aufstiegs- und Weiterbildungschancen, analysiert Indeed-Ökonomin Hering. Auch Spannenkrebs macht das Image der Branche Sorgen. „Wann haben wir denn in der Vergangenheit über Pflege geredet? Doch immer nur, wenn irgendetwas schief gegangen ist. Dass über Jahre zu wenig ausgebildet worden ist und für viele die Attraktivität des Pflegeberufs nicht mehr gegeben ist, spüren wir nun als Ergebnis. Es passiere in der Praxis durchaus, „dass unterschriebene Verträge vorliegen, die Leute dann aber doch nicht ihre Stelle antreten.“ Weiteres Thema:Wo aus einem Hotel eine Demenz-WG wird
Gelsenkirchener Caritas hat rund 300 Beschäftigte in ihren drei Senioren-Anlagen
Auch die Caritas bildet über Bedarf aus. „Doch wir stellen fest, dass nicht wenige Auszubildende abbrechen. Gerade bei diesem Punkt machen wir uns viele Gedanken. Bedarf es besserer Förderung? Oder eher Betreuung bei schulischen Problemen?“ So oder so – „Da ist noch Luft nach oben“, glaubt Spannenkrebs.
Die Caritas hat rund 300 Beschäftigte in ihren drei Senioren-Anlagen. Zusätzlich beschäftigt der Sozialverband noch rund 150 Mitarbeitende in der ambulanten Pflege. Während laut Spannenkrebs im stationären Bereich die Probleme erst in den vergangenen zwei Jahren wirklich drängend wurden, sei die Personalsituation im ambulanten Bereich schon länger angespannter, auch weil hier die Jobdienstleister stärker als Konkurrenz zu spüren seien. Viele Pflegekräfte wechselten zu Zeitarbeitsfirmen. „Für viele scheint das attraktiver“, meint Spannenkrebs. Auch weil sie beispielsweise seltener einspringen müssen oder weil sie keinen Wochenenddienst machen möchten. Das können wir unsern Stammmitarbeitern so nicht anbieten.“ Weiteres Thema:Das älteste Seniorenheim in Gelsenkirchen wird runderneuert
Die Mitarbeiter-Fluktuation hat in der Corona-Zeit nicht zugenommen
Die Pandemie habe die Situation zumindest nicht weiter verschärft, sagt Spannenkrebs: „In der Coronazeit sind wir überall auf der letzten Rille gelaufen“. Die Fluktuation habe dennoch nicht zugenommen. Wegen Corona „hat es zumindest keine Job-Abgänge gegeben“.
„Es wird immer schwieriger, neue Fachkräfte zu finden. Die Pandemie hat dieses Problem noch vergrößert“, glaubt dagegen Björn Schulte, Pflegedienstleiter des ambulanten Dienstes APD in Gelsenkirchen. Dass es laut Bundesagentur zuweilen ein halbes Jahr dauere, Verstärkung zu finden, bestätigt er ebenfalls: „Das ist durchaus realistisch.“ Weiteres Thema: Kompetenzzentrum Pflege geht in Gelsenkirchen an den Start
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Einigermaßen entspannt sieht Marc Dissel die Situation in den städtischen Seniorenhäusern und beim ambulanten Dienst. „Für uns besteht das Problem nicht so. Wir merken zwar auch, dass es enger wird. Aber bis jetzt haben wir noch keine Probleme“, erklärt der Betriebsleiter der vier städtischen Seniorenheime. Auch hier wird generell auf die Karte Ausbildung gesetzt. „Wir haben derzeit 24 Auszubildende und sind bemüht, alle zu übernehmen, wenn es geht.“ Entsprechend gelänge es in den Heimen, Stellen nachzubesetzen.
Bewerber und Mitarbeitende schätzen Sicherheit des öffentlichen Diensts
Zudem registriert Dissel „nach wie vor Initiativbewerbungen“, was er auch auf einen gewissen Attraktivitätsbonus sowie das in den vergangenen Monaten gewachsene Sicherheitsbedürfnis zurückführt. „Wir sind öffentlicher Dienst, wir zahlen Tarif. Gerade in Zeiten der Pandemie werden das viele schätzen gelernt haben.“
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