Gelsenkirchen. Hunderte Jüdinnen und Juden wurden 1942 am Gelsenkirchener Wildenbruchplatz von Nazis zusammengepfercht und deportiert. Schalke-Fans erinnern.
Flaggen auf halbmast, ein Tag so kalt, grau und nass, als wollte das Wetter untermalen, wie man sich auch heute noch fühlt angesichts der unvorstellbar grausamen Verbrechen, die Menschen anderen Menschen angetan haben. Es ist der 27. Januar, in Deutschland seit 1996 ein Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. Er ist der Jahrestag der Befreiung der Überlebenden des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz 1945 durch Soldaten der Roten Armee.
Millionen Menschen fielen der bestialischen Todesmaschinerie der NS-Diktatur zum Opfer, ihre Geschichten werden niemals vergessen, so zumindest lautet das Versprechen, das man hierzulande immer wieder wiederholt. Um die Leidensgeschichte mindestens 500 jüdischer Frauen, Männer und Kinder sichtbar zu machen, die von Gelsenkirchen aus in die Konzentrationslager in Osteuropa deportiert wurden, hat Oberbürgermeisterin Karin Welge am Donnerstag im Beisein von Judith Neuwald Tasbach, Vorsitzende der Jüdischen Kultusgemeinde Gelsenkirchen, Hanne Büscher und Jannik Rituper von der Arbeitsgruppe „Erinnerungsort Wildenbruchplatz“, Christina Rühl Hamers für den Vorstand des FC Schalke 04, Petra Beckefeld, Direktorin Straßen.NRW, sowie Daniel Schmidt, Leiter des Instituts für Stadtgeschichte, und Polizeipräsidentin Britta Zur eine neue Erinnerungsortetafel am Wildenbruchplatz enthüllt.
Schalke-Fans erinnern Deportation Hunderter Juden aus Gelsenkirchen
In Kooperation mit Historikern des Instituts für Stadtgeschichte Gelsenkirchen (ISG) waren zuvor Schalke-Fans monatelang als Bürger-Forscher auf Spurensuche der größten Deportation Gelsenkirchener Juden Anfang 1942 gegangen. Ihre letzten Tage in der Heimat mussten jene auf engstem Raum zusammengepfercht in der – später durch Kriegsbomben zerstörten – Ausstellungshalle am Wildenbruchplatz in der Nähe des Hauptbahnhofs verbringen, wo heute die Polizeiwache Süd, Straßen.NRW und ein Parkplatz sind.
„Keine Frage: Hier am Wildenbruchplatz, wo vor 80 Jahren jüdische Bürgerinnen und Bürger unserer Stadt und auch aus den Nachbarstädten zuerst zusammengepfercht und dann nach Riga deportiert wurden, fast alle in den sicheren Tod – da müssen wir gedenken. Da müssen wir und da müssen auch künftige Generationen wissen, was geschehen ist und was nie wieder geschehen darf,“ sagte OB Welge bei der Enthüllung der Gedenktafel.
Fünf Tage war der Zug, der in Gelsenkirchen startete und über Dortmund nach Riga in Lettland fuhr, unterwegs. Im Zug, daran erinnern sich Zeitzeugen, war nicht ein bisschen Platz. „Wir konnten uns nicht hinlegen, nicht einmal die Beine ausstrecken, so eng war es in dem Waggon“, berichtete Rolf Abrahamson, der damals 16 Jahre alt war. Die Insassen leckten das Kondenswasser von den Scheiben, um nicht zu verdursten.
Es war, so steht es in der Stadtchronik, eine der kältesten Nächte seit langer Zeit. Minus zehn Grad Celsius wurden gemessen, Schnee und Eis bedeckten Straßen, Wege und Schienen. Freiwillige Helfer der Nazis und Zwangsarbeiter machten die Deportation dennoch möglich. Etwa 440 Jüdinnen und Juden sahen Gelsenkirchen an diesem Tag zum letzten Mal. Sie überlebten das Ghetto oder die Konzentrationslager nicht. Bislang erinnerte am Wildenbruchplatz nur ein Stolperstein für Helene Lewek an das Geschehene. Lewek entzog sich der Deportation, indem sie die Flucht in den Tod wählte.
Hass und Liebe: So ist das Leben als Jude in Gelsenkirchen
Indes, das berichtete Judith Neuwald-Tasbach im WAZ-GEspräch im Sommer 2021 noch, sei es für Jüdinnen und Juden auch heute noch nicht immer einfach, in Deutschland in Frieden und ohne Angst zu leben. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde erzählte von der großen Welle der Solidarität, der Liebe und Wärme, die der Gemeinde entgegengebracht wurden, aber eben auch vom Hass, dem Antisemitismus, denen sie zuvor wieder bei einer Anti-Israel-Demonstration vor der Synagoge ausgesetzt waren.
„Ein Gelsenkirchener Jude trägt vor allem deshalb keine Kippa auf der Straße, weil er um die Bedrohung fürchtet, die schon länger da ist. Wegen der Nazis und ihrer geistigen Nachkommen, wegen einer großen schweigenden Mehrheit“, sagte Neuwald-Tasbach. „Wegen linksextremer und wegen einer realen Bedrohung muslimisch geprägter Antisemiten, die hier geboren und aufgewachsen sind“.
Corona habe Antisemitismus beflügelt
Der Antisemitismus-Beauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, sieht überdies auch eine weitere Bedrohung der Gegenwart. Klein nannte es „extrem und infam“, dass einige Teilnehmer von Corona-Demonstrationen sich gelbe Judensterne anheften und so die NS-Verbrechen relativieren. „Es zeigt einen wachsenden Verrohungszustand in unserer Gesellschaft.“
Corona habe Antisemitismus beflügelt, fügte er hinzu. So habe eine Studie nachgewiesen, dass sich die Zahl deutschsprachiger Internet-Posts mit judenfeindlichen Inhalten seit Beginn der Pandemie verdreizehnfacht habe. Auch in der Gelsenkirchener Telegram-Gruppe, in denen zu den Anti-Impfpflicht-Demonstrationen aufgerufen wird, wurden, wenn auch bisher nur sehr vereinzelt, antisemitische Schaubilder geteilt.
Extremisten nutzten die Unzufriedenheit einiger Menschen mit der Corona-Politik aus. Antisemitismus sei „eine Art klebriger Kitt“ für die verschiedenen Protestgruppen, von vermeintlich unbedarften Bürgern über Esoteriker, Verschwörungsanhänger, „Prepper“ und Reichsbürger bis hin zu Rechtsextremisten, so Klein.
Jüdinnen und Juden wünschten sich nichts mehr, als in Normalität und Sicherheit zu leben. Normalität sei aber weit entfernt, wenn vor jüdischen Einrichtungen Polizeischutz zum Alltag gehöre. „Das ist die traurige Botschaft auch zu diesem Gedenktag, dass wir das noch nicht geschafft haben zu zeigen und zu leben: Die jüdische Gemeinschaft ist ein ganz normaler Teil der Gesellschaft und bereichert sie.“
Auch Judith Neuwald-Tasbach teilt diese Hoffnung, gerade an diesem regennassen und grauen 27. Januar, hier am Wildenbruchplatz, wo vor 80 Jahren 26 Mitglieder ihrer Familie nach Riga deportiert wurden. Nur zwei überlebten den Holocaust, ihr Vater Kurt Neuwald und sein jüngster Bruder Ernst.