Gelsenkirchen. Erst die Infrastruktur der Eisenbahn macht die Entwicklung des Dorfes zur Stadt Gelsenkirchen möglich. Der Bahnhof ist Keimzelle des Lebens hier.
Es ist Samstag, 15. Mai 1847: Zum ersten Mal passiert ein Zug Gelsenkirchen. Die Stecke der „Cöln-Mindener-Eisenbahn“ ist ganz neu erbaut. Es ist eine ganz zentrale Route der preußischen Eisenbahn. Sie ist wichtig für das Reich. Für die künftige Stadt jedoch ist sie viel mehr. Sie ist der Anfang eines fulminanten Aufstiegs. Eben noch leben hier ein paar hundert Menschen. Gut dreißig Jahre später sollen es bereits 30.000 Bewohner sein.
Dabei ist es zunächst nicht vorprogrammiert, dass die Route durch das Emschertal führt, erklärt Stadthistoriker Dr. Daniel Schmidt. Eine andere mögliche jedoch aufwendigere Strecke hätte durch das Bergische Land geführt. So fällt die Wahl zunächst auf die einfacher zu bauende Route. Sie ist die Hauptachse der Industrialisierung im nördlichen Ruhrgebiet. Die neue Infrastruktur macht eine rasante Entwicklung möglich. „Die Stecke führte rund 800 Meter südlich des Dorfkerns vorbei. Die Verbindung dazwischen ist die neu entstehende Bahnhofstraße.“ Die entsteht zunächst eher ungeplant aus sich heraus. „Das ist damals ein bisschen wie im Wilden Westen. Man spricht ja auch vom Wilden Westen Preußens.“ [Lesen Sie auch: Einkaufs-Bummel durch 160 Jahre Bahnhofstraße Gelsenkirchen]
Die Bahnhofstraße in Gelsenkirchen wird Vergnügungsmeile
Nur zehn Jahre später entsteht in Sichtweite des Bahnhofes die Zeche Hibernia. „Das ist die Keimzelle der Industrialisierung in der Stadt.“ Jetzt wird gewirtschaftet, geschafft – und das braucht Arbeiter. Sie kommen mehr und mehr nach Gelsenkirchen.
Weil sie hier nicht nur arbeiten, sondern auch leben, entwickelt sich eine städtische Infrastruktur. „Aus der Bahnhofstraße wird eine Vergnügungsmeile. Es gibt hier nicht nur Geschäfte. Es entstehen Gaststätten mit großen Sälen, in denen Theater gespielt wird, getanzt und gefeiert. Später folgt auch ein Kino.“ Kurzum: „Hier findet das Leben statt.“
Bei ihrem Wachstum überrennt sich die Stadt beinahe selbst – in jedem Fall aber ist der kleine Bahnhof, der neben der ersten Bretterbude erbaut wurde, bald zu klein. Fuhren 1860 noch 35 Züge am Tag durch Gelsenkirchen, sind es 1904 bereits 218. „Im ausgehenden 19. Jahrhundert war klar, der Bahnhof reicht nicht mehr aus.“
So wird 1904 ein neues Gebäude errichtet: Ein wunderschöner preußischer Bau, ein echtes Kleinod. Gleich gegenüber entsteht die Post. „Beides ist für die Stadt das Tor zur Welt“, beschreibt der Historiker, was die Bauten eint. Der Bahnhof ist zudem mehr als nur ein prunkvoller Zweckbau. Er beinhaltet auch eine Gastronomie. „Und meines Wissens später auch ein Erotik-Kino.“ Und der Bahnhof pulsiert: Im Schnitt passieren ihn rund 10.000 Menschen täglich.
Nach dem Krieg wieder aufgebaut
Sieht man die alten Bilder, kann man sich nur schwer orientieren. Diese wunderschönen Gebäude beeindrucken, die meisten jedoch stehen nicht mehr. Daher ist es nicht ganz einfach nachzuvollziehen, was nun heute an selber Stelle steht. „Die waren aber auch in die Jahre gekommen. Der Bahnhof soll am Ende auch wirklich nicht mehr gut gerochen haben“, schildert Daniel Schmidt Berichte zum Augenzeugen.
Den Zweiten Weltkrieg übersteht der Bahnhof, wenn auch mit großen Zerstörungen. Rasch wird er wieder aufgebaut – ergänzt durch ein Element, das über die nächsten Jahre zum Wahrzeichen der Stadt wird: Ein riesiges kunstvolles Fenster, 7,75 Meter hoch und 8,20 Meter breit.
Das Glasmosaik besteht aus rund 35.000 Einzelteilen. Es zeigt von links nach rechts eine Chemie-Laborantin, einen Glasbläser, einen Bergmann, einen Stahlkocher und eine Schneiderin. Die etwa dreieinhalb Meter hohen Figuren symbolisieren die fünf Säulen der Wirtschaft in Gelsenkirchen, der Boom-Town an der Emscher.
Was aus heutiger Sicht etwas übertrieben klingen mag, das ist damals das Empfinden der Menschen, ihr Selbstbewusstsein. Es ist die Hochzeit der Stadt, die gerade rund 400.000 Einwohner hat. Die Bahnhofstraße ist eine der am stärksten frequentierten Einkaufsstraßen des Landes. Das imposante Fenster begrüßt die Ankömmlinge, vielfach Gastarbeiter, und macht ihnen klar: Die Zukunft in Gelsenkirchen ist eine gute.
Der Bahnhof treibt die Gemüter um
Bald jedoch gerät dieses Bild ins Wanken: Nicht nur die Kohlekrise hinterlässt früh ihre Spuren. Auch die so wichtige Textilindustrie wandert bald ab in Teile der Erde, in denen billiger produziert werden kann. Spürbar treffen nun die Folgen der Globalisierung und des Niedergangs des Ruhrbergbaus die Stadt.
Ein Fenster zur Stadtgeschichte
Das Glasmosaik wird 1950 in den alten Hauptbahnhof eingebaut. Der Künstler Franz Marten, selbst gebürtiger Gelsenkirchener, gestaltet es in rund einem Jahr. Die ausführenden Arbeiten übernimmt die buersche Firma „Donat“, die sich auf die Restaurierung von Kirchenfenstern spezialisiert hat und nach dem Krieg floriert.
Das Symbol des Wirtschaftswunders in der Stadt setzt auf starke Zeichen – und lädt zum Entdecken ein. Neben den fünf Arbeiten aus den fünf so wichtigen Branchen, erkennt man über ihren Köpfen drei Winderhitzer des „Schalker Vereins“ sowie den Stadtnamen.
Unter den Füßen der Figuren stehen die zugehörigen Arbeitsbereiche noch einmal ausgeschrieben: Chemie, Glas, Kohle, Stahl und Bekleidung. Dazu gibt es weitere symbolhafte Abbildungen aus den Wirtschaftsbereichen wie ein Glaskolben mit Schläuchen, zwei gekreuzte Glas-Blasrohre, Grubenlampe, Hochofen sowie Schere und Jackett.
Mit dem Niedergang dieser Wirtschaftszweige und dem Abriss des Bahnhofs stellt sich die Frage nach der Zukunft dieser kunsthandwerklichen Arbeit. Im Juli 1985 wird es an der Südfront des Bekleidungshauses „Boecker“ angebracht – in Sichtweite des Bahnhofes. Als Fenster fungiert es nun nicht mehr. Es ist zum Wandobjekt geworden und steht seit 2005 unter Denkmalschutz.
Der Hauptbahnhof treibt zu allen Zeiten die Gemüter um. Auch in den 70er Jahren gilt er als nicht mehr zeitgemäß. Aus Amerika schwappt der Trend zu Einkaufszentren nach Europa. Ein solches soll nun hier entstehen. Gleichsam macht der Bau einer U-Bahn einen Neubau des Bahnhofsgebäudes notwendig. Bahnhofscenter und Bahnhof entstehen Anfang der 80er Jahre neben den Resten des alten Bahnhofs.
Die Debatte um den Ort verstummt weiterhin nicht. „Viele Menschen vermissen die architektonische Idee eines Bahnhofs.“ Wie so oft in Gelsenkirchen scheiden sich an markanten Punkten eben die Geister. Am Bahnhof vielleicht ganz besonders.
Immerhin, sagt Daniel Schmidt, zur Weltmeisterschaft 2006 sei der Bahnhof noch einmal überholt und „aufgehübscht“ worden. Allerdings sei hier der zentrale Akteur die Deutsche Bahn. Und deren Priorität liege eben nicht unbedingt auf Gelsenkirchen. Auf einem Bahnhof, dessen Optik keineswegs seine stadthistorische Bedeutung symbolisiert. „Er ist ein Gebrauchsort. Er ist einfach da. Die Menschen machen sich keine Gedanken darum, aber für Gelsenkirchen ist er die Keimzelle.“