Gelsenkirchen. Er: 17 und Pfarrerssohn. Sie: 18 und aus ärmeren Verhältnissen. Über die verschiedenen Wege zweier junger Gelsenkirchener in die Politik.

Die aktuelle Politik gehörte bei ihrer Familie eigentlich nicht an den Esstisch. Die 18-jährige Salma Hamann findet selbst das Wort „sozial schwach“, um ihren Hintergrund zu beschreiben. Der libanesische Vater: Uhrenhändler. Die deutsche Mutter: Hausfrau. Inzwischen wurden sie aber beide von ihrer Tochter politisiert. Die Tischgespräche: Gleichen jetzt einer Ausschusssitzung. „Wir diskutieren fast nur noch politisch, wenn wir am Esstisch sitzen“, erzählt die Schülerin der Gesamtschule Buer-Mitte, die parallel durch ein Sonderprogramm bereits Leistungen für ein späteres Medizin-Studium erbringt.

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Dass Salma Hamann selbst nicht aus einem reichen Elternhaus kommt, hat sie politisch angetrieben. Stichwort: Chancengerechtigkeit, was für sie zentral war beim Durchforsten verschiedener Wahlprogramme. Dass Stichwörter wie der eingeforderte „Respekt für jeden“, der rote Faden im Programm der Roten, dabei für sie besonders eingängig gewirkt haben, ist naheliegend. Also wurde sie Jungsozialistin – und bewarb sich dafür, die SPD-Landtagsabgeordnete Heike Gebhard Ende Oktober zwei Tage lang vertreten zu dürfen. Lesen Sie auch: Landtagswahl: Mit Siebel ist Gelsenkirchener Duo komplett.

Beim „Jugend-Landtag“ übernimmt der Gelsenkirchener Nachwuchs das Landtagsmandat

Die Möglichkeit, beim „Jugend-Landtag“ als junger interessierter Mensch nicht nur hinter die Düsseldorfer Kulissen zu schauen, sondern dort auch für kurze Zeit aktiv mitzuwirken, gibt es seit 2008. „Jusos haben da eigentlichen keinen Vortritt, wir schauen uns die schriftlichen Bewerbungen ganz unabhängig davon an“, sagt Gebhard, die zur Landtagswahl 2022 nicht mehr antritt. „Dass es dieses Mal Jusos gewesen sind, ist also reiner Zufall.“

Der zweite Gelsenkirchener Jugendparlamentarier durfte der 17-jährige Rasmus Chaikowski sein, der nicht nur Stufensprecher an seiner Schule, sondern sogar Vize-Vorsitzender der Gelsenkirchener Jungsozialisten ist.

Die Gelsenkirchener SPD-Landtagsabgeordneten und ihre jungen Vertreter (v.li.): Heike Gebhard, Salma Hamann, Rasmus Chaikowski und Sebastian Watermeier.
Die Gelsenkirchener SPD-Landtagsabgeordneten und ihre jungen Vertreter (v.li.): Heike Gebhard, Salma Hamann, Rasmus Chaikowski und Sebastian Watermeier. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Man könnte sagen: Rhetorisch hat er sich bereits in sein Amt eingefunden. Auf die Frage, ob er denn jetzt nach seiner Landtagserfahrung das politische Mandat als Zukunftsziel anvisiert, sagt er wie für die Kamera gemacht: „Mein Anspruch an meine Jugend ist es, das noch nicht zu wissen.“

Gelsenkirchener Jung-Abgeordnete werden gegen Rechtsextremismus in der Polizei aktiv

Bei Chaikowski ist es mit den politischen Debatten am Esstisch eine ganz andere Sache gewesen. „Ich bin froh, wenn es dort mal nicht um Politik geht“, sagt er mit einem Grinsen. Seine Großväter hätten beide das SPD-Parteibuch gehabt, seine Eltern seien beide „Pfarrer*innen mit grundchristlichen Werten und einem ursozialdemokratischen Verständnis“. Auf die Frage, warum zumindest das Christliche nicht auch zur CDU hinzog, antwortet Chaikowski: „Es ist nicht gerade christlich, Menschen auf dem Mittelmeer ertrinken zu lassen.“

Den SPD-Landtagsabgeordneten Sebastian Watermeier im Landtag vertreten zu können, fand er auch deswegen so attraktiv, weil er „nicht nur Politik spielen, sondern reellen Einfluss“ nehmen wollte. Denn beim „Jugend-Landtag“ werden die getroffenen Beschlüsse der 199 Jung-Parlamentarier auch tatsächlich an den Hauptausschuss des Landtags übermittelt. Welche Themen dabei debattiert werden, wird zuvor durch eine Umfrage unter den Teilnehmern entschieden. Dieses Mal ging es um Rechtsextremismus in der Polizei und die Digitalisierung von Schulen.

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„Der erste Antrag war für mich sehr spannend“, sagt Chaikowski. „Es ging darum, eine unabhängige Beschwerdestelle für entsprechende Vorfälle einzurichten, worauf sich auch alle demokratischen Fraktionen geeinigt haben.“ Für den 17-Jährigen sind Rechtsextremismus und Rassismus „eine der größten Probleme, die der Staat bewältigen muss.“ Ohnehin beschreibt sich Chaikowski als engagiert „im Kampf gegen Rechts“ – was er auch auf seine Biographie zurückführt: Bis zur dritten Klasse wohnte er in Bochumer Stadtteil Wattenscheid, der zu den Hochburgen der Nazi-Szene im Ruhrgebiet zählt. „Da standen wir teils unter Beschuss.“

Digitalisierung in Schulen: SPD-Nachwuchs lehnt Antrag ab

Den zweiten Antrag zur Digitalisierung in Schulen dagegen, „haben wir als Sozialdemokraten abgelehnt“, erzählt Salma Hamann. Denn ihr Kernthema, die Chancengerechtigkeit, habe dabei eine zu geringe Rolle gespielt. „Dazu war zu wenig konkret ausformuliert.“ Änderungsanträge konnten dieses Mal nicht gestellt werden. „Eigentlich ist es nicht Sinn des Formats, Diskussionen zu beschneiden“, sagt Sebastian Watermeier. Aber offenbar weil die AfD ihren Jugendvertretern zuletzt „von der Tribüne Anweisungen gegeben“ und „massiv interveniert“ habe, seien die Spielregeln geändert worden, ergänzt Heike Gebhard.

Aber ist das alles überhaupt noch attraktiv für junge Leute, das langsame Tempo der Demokratie, das angesichts von Herausforderungen wie der Klimakrise auch mal etwas überfordert wirkt? „Es gibt Momente, in denen Demokratie zu langsam ist“, gibt Chaikowski zu. Aber man müsse darum kämpfen, dass Demokratie lebendig bleibt, indem man den etwa den Druck von außerparlamentarischen Organisationen aufgreife. „Ganz sicher“, sagt Chaikowski, „gehört nicht dazu, das Versammlungsgesetz in NRW zu verschärfen, so wie es die Landesregierung plant.“ Attacken gegen den politischen Gegner gehören zum Abgeordneten-Dasein schließlich dazu.

Wie informiert sich der Polit-Nachwuchs?

„Ich habe viel zu viele Nachrichten-Apps auf dem Smartphone“, sagt SPD-Nachwuchs Rasmus Chaikowski zu der Frage, wie er sich über das Tagesgeschehen informiert. „Social Media ist definitiv nicht meine erste Informationsquelle.“Anders ist das bei seiner Kollegin Salma Hamann, die auch vor allem Instagram nutzt, um sich politisch zu informieren. Politik und Instagram - passt das zusammen? Über Social-Media-Profile von Parteien oder Nachrichtenseiten werde nicht schlechter formuliert als über Nachrichtensendungen, meint Hamann. „Politische Themen können dort genauso gut formuliert und dargestellt werden.“