Gelsenkirchen. Die Zahl der politischen Straftaten in Gelsenkirchen steigt, 70 Prozent davon sind rechtsradikal. Die Stadt initiiert ein einzigartiges Projekt.
Lange Zeit galt Gelsenkirchen als gefeit vor der Gefahr von rechts. Fast jeder fünfte Bürger stammt aus dem Ausland, Migranten sind schlicht Bestandteil der Stadtgesellschaft. Seit zwei Jahren aber steigt die Zahl politisch motivierter Straftaten enorm, verdoppelte sich nahezu im Zeitraum von 2017 bis 2018 sogar auf 103 Fälle. Im vergangenen Jahr registrierte der NRW-Staatsschutz bereits 119 politisch motivierte Straftaten – 70 Prozent davon gehen auf das Konto von Rechtsradikalen.
Die Verwaltungsspitze ist „alarmiert aber nicht ohnmächtig“, wie Wolfgang Schreck, Leiter des Referats Kinder, Jugend und Familien, es beschreibt. Im Interview erklärt er gemeinsam mit der Sarah Prütz von der Fachstelle gegen Rechtsradikalismus und Extremismus, was die Stadt gegen die wachsende Gefahr von rechts unternimmt.
Wie erklären Sie sich den enormen Anstieg der rechtsextremen Straftaten in den vergangenen zwei Jahren?
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Sarah Prütz: Ein Grund dafür ist sicher auch die Gründung des Kreisverbands Gelsenkirchen/Recklinghausen der Partei „Die Rechte“. Dass deren Vertreter vor nichts zurückschrecken, beweist der vor kurzem wegen Beleidigung und Bedrohung zu einer Haftstrafe verurteile Vorsitzende Henry Schwind. Im Gericht bekam er Unterstützung von bekannten Neonazis aus Dortmund-Dorstfeld: Wir beobachten generell, dass die Dortmunder Szene versucht, auch in benachbarten Ruhrgebietsstädten Fuß zu fassen.
Für Aufsehen sorgt auch der Kampfsportclub „Guerreros“ bzw. Stahlwerk in Ückendorf, wo Bandidos, Hooligans und die rechte Bürgerwehr „Steeler Jungs“ trainieren. Kann die Stadt Gelsenkirchen überhaupt etwas dagegen tun?
Sarah Prütz: Wir mussten uns die Frage stellen, ob und wie wir überhaupt dagegen vorgehen wollen: Andere Städte lassen diese Clubs einfach laufen, weil sie nicht zu viel Aufhebens darum machen wollen und hoffen, sie würden von allein wieder verschwinden. Das sehen wir anders. Wir waren uns als Stadt schnell einig, schnell Präventionsmaßnahmen zu entwickeln. Gegen das Stahlwerk vorzugehen, müsste juristisch begründet sein und ist Sache der Polizei. Was wir aber machen können, ist mit Aufklärung, Kampagnen und Projekten aufzuklären und rechter Gewalt vorzubeugen.
Wie sieht das konkret aus?
Wolfgang Schreck: Wir haben uns um Fördermittel für das vom Land ins Leben gerufene Projekt „NRWeltoffen“ beworben und den Zuschlag bekommen. Seit 2017 sind wir eine von 25 Städten und Kommunen in NRW, die mit 72.000 Euro Landesmitteln im Jahr neben zivilgesellschaftlichen Projekten auch eine halbe Stelle zur Rassismus-Prävention finanzieren können. Diese bekleidet bei uns Sarah Prütz.
Frau Prütz, macht es Sie nicht fassungslos, dass sie etwa gegen Clubs wie die „Guerreros“ nicht direkt vorgehen können?
Sarah Prütz: Wir sind nicht ohnmächtig und mir macht es jeden Tag Mut, wenn ich sehe, wie viele Menschen sich gegen rechte Gewalt engagieren, darunter etwa im Gelsenkirchener Aktionsbündnis gegen Rassismus und Ausgrenzung. Mit unseren Mitteln konnten wir bislang 32 zivilgesellschaftliche Projekte finanzieren – darunter eine interkulturelle Bibliothek, alevitische Kochabende, Fußballturniere mit dem Motto „Demokratie stärken“, die Dauerausstellung eines Berufskollegs zur Vielfalt an der Schule und zuletzt eine Online-Lesung mit dem Autoren Robert Claus, der ein Buch zu Rechtsextremen im Kampfsport veröffentlich hat. Auch wir wollen jetzt gezielt Akteure aus dem Sport für das Thema sensibilisieren.
Wie wollen Sie das anstellen?
Sarah Prütz: Mit Gelsensport haben wir einen zugkräftigen Partner an Bord und hatten ursprünglich geplant, Ende November mit allen Akteuren zusammenzukommen. Durch die Corona-Beschränkungen wird das Treffen nun verschoben, die ersten Fortbildungen von Trainern und Übungsleitern starten aber bereits im Januar. Dabei nehmen wir gezielt kleinere Vereine und auch Kampfsportclubs in den Blick, von denen sich bereits einige bereit erklärt haben, mitzumachen. Schalke und auch andere größere Fußballclubs leisten seit Jahren selbst sehr gute Rassismus-Prävention. Uns geht es darum, sämtliche Clubs mitzunehmen. Wir wollen ein breites Bündnis gegen Rechts aufstellen, das ist in dieser Form bislang einzigartig. Dazu stehen wir auch mit dem Landessportbund in Kontakt.
Aber reicht das aus, um die Gefahr am rechten Rand zu bannen?
Wolfgang Schreck: Nein, diese Gefahr zu bannen, ist ganz klar eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Auch wir haben feststellen müssen, dass dieses Problem lange unterschätzt worden ist. Was wir aber tun können, ist Bildungsarbeit zum Demokratieverständnis anzubieten – nicht nur im Kinder- und Jugendbereich sondern auch für ältere Bürgerinnen und Bürgern. Bei der Demo gegen die Corona-Regeln der AfD am Wochenende in Gelsenkirchen waren es schließlich nicht nur die Jungen, die demonstriert haben. Es ist momentan eher meine Generation, die mich enttäuscht.