Gelsenkirchen-Ückendorf. Warum ein Kölner Grundrechte-Verein der Stadt Gelsenkirchen Rücksichtslosigkeit vorwirft. Und wieso sich die Stadtverwaltung im Recht sieht.
Den Kosovo? Kennt die geistig behinderte Frau (21) nicht. Ihre Heimat ist Deutschland, hier wurde sie geboren, hier in Gelsenkirchen ging sie zur Förderschule und machte dort im Alter von 20 Jahren ihren Abschluss. Dennoch: Seit August befindet sie sich genau dort, in Peja, nachdem sie und ihre Eltern dorthin abgeschoben wurden. Das Ehepaar hatte 22 Jahre in Deutschland gelebt.
„Die Ausländerbehörde nutzte die Sommerferien, um Fakten zu schaffen und die Frau mit ihren Eltern aus Ückendorf in ein ihr völlig fremdes Land abzuschieben“, kritisiert Sebastian Rose vom Projekt „Abschiebungsreporting NRW“ des Kölner Vereins Komitee für Grundrechte und Demokratie die Maßnahme. Diese sei „rücksichtslos“ und „beschämend“, da der nun 21-Jährigen nach dem Schulabschluss das Recht auf eine Aufenthaltserlaubnis zugestanden habe. Dabei hätte ihre geistige Behinderung „zwingend“ berücksichtigt werden müssen, so Rose.
Kölner Verein: Abgeschobener Gelsenkirchenerin stand Aufenthaltserlaubnis zu
Nach seinen Angaben liefen bereits die Vorbereitungen, die junge Romni in eine Werkstätteneinrichtung für behinderte Menschen aufzunehmen, zudem sei ein Verfahren zur Einrichtung einer gesetzlichen Betreuung beim Amtsgericht anhängig gewesen. Aufgrund der Behinderung sei die Frau nicht in der Lage, sich um ihre Angelegenheiten selbst zu kümmern. Ein Gutachter habe eine Geschäftsunfähigkeit festgestellt.
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Auch ihre Eltern (beide 53) seien schwer krank: Der gehörlose Vater sei 1999 im Kosovo Opfer eines schweren Angriffs geworden und dann mit seiner Frau nach Deutschland geflüchtet. Seit Jahren habe er sich wegen der traumatischen Erfahrungen in psychiatrischer Behandlung befunden. Die Mutter sei durch die jahrelange fordernde Betreuung und Begleitung mehrerer behinderter Familienangehöriger selbst schwer psychisch erkrankt und körperlich erschöpft.
Vorwurf: Stadt Gelsenkirchen unterließ Hinweis auf Härtefall-Kommission
„Die Behörden haben nicht nur eine Familie getrennt, weil mehrere volljährige Geschwister der jungen Frau mit eigenem Bleiberecht in Deutschland geblieben sind. Sie haben die junge Frau und deren Eltern vielmehr trotz deren besonderer Schutzwürdigkeit ins Elend abgeschoben, weil es im Kosovo keinerlei soziale Versorgung gibt“, betont Rose. Das Kosovo gilt seit 2015 als sicheres Herkunftsland.
Die Ausländerbehörde habe ganz offensichtlich nicht die Möglichkeiten für ein humanitäres Bleiberecht geprüft, kritisiert er. Augenscheinlich habe die Stadt die Familie nicht darauf hingewiesen, dass sie bei der Härtefall-Kommission NRW einen Antrag hätte stellen können, damit diese über den Fall berät. Dieses ausländerrechtliche Beratungsgremium kann eine Empfehlung an die zuständige Behörde aussprechen, eine Abschiebung noch einmal zu überdenken.
Gelsenkirchener Verwaltung: Sind nur ausführendes Organ
Ärgerlich findet Rose auch, dass die Stadt nicht das Ende eines neuen Verfahrens zur Prüfung von Abschiebungsverboten abgewartet habe, das vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Ende 2019 eingeleitet worden sei.
Die Stadt weist die Vorwürfe zurück. Sie habe gar keine andere Möglichkeit gehabt, als die Familie abzuschieben, weil sie rechtlich dazu verpflichtet gewesen sei, so Stadtsprecher Martin Schulmann. Dies sei „vor dem Hintergrund der langjährig bestehenden Ausreiseverpflichtung aus mehreren rechtskräftig abgelehnten Asyl- bzw. Gerichtsverfahren“ erfolgt.
Laut Stadt Gelsenkirchen wurden gesundheitliche Einschränkungen berücksichtigt
Die körperlichen und geistigen Einschränkungen der Familienmitglieder „wurden dabei in jedem Verfahren berücksichtigt, konnten jedoch zu keiner anderen rechtlichen Bewertung führen.“ Wie bei anderen Fällen seien auch vor dieser Rückführung „zunächst alle in Betracht kommenden humanitären Bleibeperspektiven geprüft worden“. Ein „solcher Anspruch“ habe „in Anbetracht der vorgelegten Dokumente aus mehrfacher Perspektive nicht begründet werden“ können. Ein Aufenthaltsrecht der Tochter habe zu keinem Zeitpunkt bestanden.
Die Richtigkeit der Maßnahme belege auch die Tatsache, dass das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen noch am Abreisetag zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Rückführung rechtmäßig sei.
„Medizinische Betreuung“ während der Abschiebung
Da die Ückendorfer Familie „anwaltlich exzellent beraten wurde“, habe die Stadt sie nicht auf die Härtefallkommission aufmerksam machen müssen, so Schulmann. Dem Wiederaufgreifensverfahren beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge für beide Elternteile komme unterdessen keine aufschiebende Wirkung zu, sodass ein Abwarten des Verfahrens „nicht begründet erschien“. „Wir als Stadt sind nur ausführendes Organ und auch gegenüber dem Steuerzahler verpflichtet.“
Die Stadt habe alle Maßnahmen getroffen, um ihren Fürsorgepflichten bei der Rückführung gerecht zu werden. So sei „zu jedem Zeitpunkt der Maßnahme eine medizinische Betreuung gegeben“ gewesen und eine „gesonderte Inempfangnahme im Heimatland“ organisiert worden.
Roma-Vereine und Diakonie fordern Rückholung der Familie nach Gelsenkirchen
Sebastian Rose will das nicht gelten lassen. „Die Kommune ist nach Schema F vorgegangen. Sie hätte sich jenseits des rechtlichen Verfahrens mehr um die Frage eines humanitären Bleiberechts kümmern müssen.“ Im Kosovo habe die Familie zwar endlich eine Unterkunft gefunden, allerdings ohne Heizung. „Sie ist finanziell komplett von ihren Verwandten in Deutschland abhängig.“
Die Vereine Roma Center und Bundes Roma Verband verurteilen das Vorgehen ebenfalls scharf und stellen einen Zusammenhang zu Antiziganismus her, also der Diskriminierung von Roma. Die Abschiebung der drei Gelsenkirchener sei in den Bericht der Unabhängigen Kommission Antiziganismus eingeflossen, die 2019 von der Bundesregierung eingesetzt wurde und einen Abschiebestopp sowie ein Bleiberecht für Roma fordert. „Wir fordern die Rückholung der drei Menschen nach Gelsenkirchen und die Erteilung eines humanitären Bleiberechts“, so das Roma Center, das darin unterstützt wird von der Diakonie Rheinland Westfalen-Lippe.