Gelsenkirchen. Die Stadt Gelsenkirchen hat Kirchenasyl gebrochen – so der Vorwurf einer Gemeinde aus Buer, die einem Afghanen Unterschlupf gewährt hatte.
„Kein Mensch ist illegal“ – so steht es in schwarzer Schrift auf dem violetten Pappschild, das Farid S. am Mittwochnachmittag vor dem Hans-Sachs-Haus in die Höhe hält. Trauer und Entsetzen sind in dem Gesicht des 19-jährigen Afghanen deutlich abzulesen. Sein älterer Bruder Basir (25) ist am frühen Montagmorgen aus dem Kirchenasyl, das ihm die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde Am Spinnweg in Buer seit Juli 2019 gewährt hatte, herausgeholt und anschließend sofort nach Dänemark überstellt worden. Gemeindemitglieder waren über dieses Vorgehen der Ausländerbehörde Gelsenkirchen so empört, dass sie am Mittwoch bei einer Versammlung vor dem Hans-Sachs-Haus gegen diese Abschiebung demonstrierten.
„Ich habe am Dienstagabend mit meinem Bruder kurz telefonieren können. Er ist in Dänemark in einem abgeschirmten Sammelcamp für Flüchtlinge untergebracht. Und es geht ihm sehr schlecht – genau wie meinen Eltern und mir“, berichtet Farid, der zu der rund 50-köpfigen Demonstranten-Gruppe gehört. Darunter sind zahlreiche Mitglieder der Gemeinde. Sie empört vor allem, dass die Stadt hier das Kirchenasyl gebrochen und zudem eine traumatisierte Familie auseinandergerissen hat.
Lebte Basir S. in einem kirchlichen Raum oder einer normalen Dachgeschosswohnung?
Christine Schultze (60) ist seit 2014 Pastorin in dieser Gemeinde. Gemeinsam mit Pastor Manuel Linke (28) hat sie sich in den vergangenen Monaten um Basir S. gekümmert. Der sei in einem Gemeindebüro, das zur Kirche der Gemeinde gehöre, untergebracht gewesen. „Dort wird gemeinsam gebetet und dort finden Gespräche der Gemeinde statt. Es ist definitiv ein kirchlicher Raum“, betont Pastorin Schultze.
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Diese Sichtweise bestreitet die Stadt. Die vier Mitarbeiter der Ausländerbehörde hätten den Mann nicht in einer Kirche oder in einem kirchlichen Raum, sondern in der Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienhauses angetroffen. Es habe ein Klingelschild mit dem Namen des Afghanen und auch einen eigenen Briefkasten gegeben. „Innen soll es wie in einer Studentenbude ausgesehen haben“, benennt ein Stadtsprecher die Sichtweise, die ihm die Kräfte der Ausländerbehörde geschildert hätten. „Das war eindeutig kein Kirchenraum“, so die Stadt, die den Vorwurf zurückweist, es hätte einen Bruch des Kirchenasyls gegeben.
Basir S. stellte im Februar 2019 einen Asylantrag in Gelsenkirchen
Pastorin Schultze erklärt, dass die afghanische Familie im Jahr 2016 nach Dänemark geflüchtet sei. Zuvor war sie laut eigenen Schilderungen in der Heimat Opfer einer schrecklichen Gewalttat geworden. Im vergangenen Frühjahr reisten die Eltern und ihre zwei Söhne dann in Deutschland ein. Basir S. stellte laut Stadt im Februar 2019 einen Asylantrag, der bereits einen Monat später als unzulässig abgelehnt wurde. Der Grund: Basir S. hatte bereits in Dänemark einen Asylantrag gestellt.
„Laut geltendem Recht ist Dänemark daher auch weiter asylrechtlich für den Mann zuständig“, so die Stadt in einer Stellungnahme. Die Entscheidung sei „gerichtlich überprüft und für rechtens erklärt worden“. Die Überstellung sei also zwingend erforderlich gewesen. „Die Entscheidung fällen die Gerichte. Wir sind nur die ausführende Behörde“, sagt der Stadtsprecher.
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Erster Fall von Kirchenasyl für diese Gelsenkirchener Gemeinde
Für die Evangelisch-Freikirchliche Gemeinde in Buer war dies der erste Fall, in dem sie einem Menschen Kirchenasyl gewährte. Diese Entscheidung hatte die Gemeindeversammlung im Frühjahr 2019 als entscheidendes Gremium abgesegnet. Seit Juli 2019 hätte Basir S. in dem Kirchenraum gelebt, berichten die beiden Pastoren.
Als klar wurde, dass der Asylantrag von Basir abgelehnt wird, wurde ein so genanntes Härtefall-Dossier erstellt und beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) eingereicht. Darin zeigte ein Rechtsanwalt noch einmal detailliert auf, welchen Gefahren Basir S. ausgesetzt wäre, wenn er nach Afghanistan abgeschoben würde. Diese individuellen Härten wollte das Bamf nach „eingehender Prüfung“ aber nicht erkennen. Die Überstellung nach Dänemark sei rechtmäßig, so die Stadt.
„Wir weinen alle ständig und haben Angst um Basir“
„Die Art und Weise, wie die Stadt mit der Familie, aber auch mit uns als Gemeinde umgegangen ist, ist unterirdisch und eine Katastrophe“, sagt ein sichtlich empörter Klaus Springer, Demo-Teilnehmer und ehemaliger Gemeindeleiter. Farid, der jüngere Bruder des Betroffenen, und die Eltern haben asylrechtlich einen anderen Status und bleiben wohl von der Überstellung nach Dänemark verschont. „Wir weinen alle ständig und haben Angst um Basir“, sagt Farid. „Genau deshalb“, so Pastorin Schultze, „appellieren wir an alle Gelsenkirchener Politiker, sich für die Belange dieser Familie einzusetzen.“
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