Gelsenkirchen. „Migranten fühlen sich missverstanden“: Warum der 11. September laut Gelsenkirchens Linken-Kandidatin ein Einschnitt für die Integration war.
Ayten Kaplan würde vermutlich selbst von sich sagen, dass Sie zuerst Botschafterin für die Selbstorganisation- und Selbstermächtigung von Migranten ist – und an zweiter Stelle Politikerin. Dennoch hat die 51-Jährige eine lange Verbundenheit zu ihrer Partei.
Seit über 20 Jahren ist die gebürtige Kurdin in der Linken, beziehungsweise der vormaligen PDS tätig, in Gelsenkirchen war sie sieben Jahre lang Kreissprecherin. Als Direktkandidatin für den hiesigen Wahlbezirk folgt die Pädagogin nun auf die Anfang August verstorbene Bundestagsabgeordnete Ingrid Remmers.
Im Interview zur Bundestagswahl 2021 spricht Kaplan über das männliche Patriarchat, die USA als „Aggressor“ und den 11. September als Wendepunkt für die Integrationspolitik und (Selbst-)Wahrnehmung vieler Migranten.
Frau Kaplan, in Workshops helfen Sie vor allem Frauen mit Migrationshintergrund bei der Stärkung ihrer Interessen und Ihrer Selbstwahrnehmung. Welche Frau nehmen Sie wahr, wenn Sie in den Spiegel schauen?
Viele der Frauen, die ich coache, leisten eigentlich sehr viel – haben aber Hemmungen, darüber zu sprechen. Sie leisten großartige Arbeit, aber das wird nicht entlohnt. Ich habe diese Probleme zum Glück nicht. Ich habe tolle Eltern gehabt, mein Vater hat immer darauf bestanden, dass seine Mädels eigenständig und finanziell unabhängig sind. Aber auch für mich galt und gilt: Man muss für die Gleichstellung kämpfen, das ist nicht selbstverständlich. Es ist nicht leicht, sich als Frau zu behaupten. [Lesen Sie auch: Sexismus und Hass: Gelsenkirchener Politikerinnen erzählen]
In Gelsenkirchen leben auch viele Menschen, die aus Kulturen kommen, in denen das männliche Patriarchat sehr ausgeprägt ist. Ist es in Städten wie Gelsenkirchen also ein besonderes Problem, dass Frauen für ihre Gleichstellung kämpfen müssen?
Auf jeden Fall. Der Kampf fängt zu Hause in der Familie an. Es liegt in meiner Hand, wie ich mein Kind erziehe, welche Aspekte der Kultur ich weitergebe. Deswegen ist es so wichtig, den Frauen zu zeigen, dass sie etwas Besonderes sind, dass sie Rechte haben, individuell sind und ihre Interessen vertreten können.
Wenn Jugendliche mit Migrationshintergrund für Ärger sorgen, wie hier zum Beispiel vor einigen Wochen auf dem Heinrich-König-Platz, wird das mitunter auch auf kulturelle Probleme zurückgeführt. Versagt hier die Integrationsarbeit?
Integration gilt uns alle an, sie funktioniert nicht mit einer einseitigen Erwartungshaltung. Wir sind da alle gefordert. Gleichzeitig müssen wir schauen, warum man manche Menschen nicht erreicht. Es reicht nicht, mit Ordnungshütern auf die Menschen zuzugehen, man muss Leute aus den Migranten-Communities gewinnen.
Es gibt zahlreiche Migrantenverbände- und vereine, aber diese sprechen nicht unbedingt die jungen Menschen an. Wie erreicht man sie also?
Man muss die Sprache dieser Menschen sprechen können und verstehen, wie sie funktionieren. Gleichzeitig muss man aber auch bedenken, dass sich die dritte und vierte Generation der Migranten häufig missverstanden fühlen. Sie sehen sich als Deutsche, aber man fordert trotzdem, dass sie sich ändern müssen.
Vielleicht liegt das daran, dass manche auch rückwärtsgewandt auftreten, zum Beispiel wenn Deutsch-Türken den höchstumstrittenen türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan abfeiern? [Lesen Sie auch: Warum so viele Türken im Ruhrgebiet für Erdogan stimmen]
Es gibt viele Unterschiede. Der eine begibt sich in Selbstisolation, weil er Angst hat, die eigene Kultur zu verlieren. Andere fühlen sich, wie ich sagte, ausgeschlossen, andere können sich tatsächlich nicht mit Deutschland identifizieren. All diese Entwicklungen hängen aus meiner Sicht stark mit dem 11. September zusammen. Das war ein Wendepunkt. Vorher hat sich keiner für Integrationspolitik interessiert, wir hatten Parallelgesellschaften. Seit dem 11. September verwendet die Politik aber auch eine ganz andere Sprache, die viele Menschen ausschließt. Seitdem gibt es zwei Pole: das Christentum und den Islam, ein Wir-gegen-die-Gefühl. Auch das hat bei manchen zu einer Rückwärtsgewandtheit geführt.
Sie haben sich bei Ihrer Partei erfolglos um Listenplatz 3 und danach auch um Platz 9 beworben. Nun haben Sie keinen Platz auf der Landesliste Ihrer Partei. Welche Fehler haben Sie gemacht?
Man geht nicht überall als Nummer eins heraus. So haben die Delegierten nun mal entschieden. Man zieht einen Strich drunter und weiter geht’s.
Linke holten 7,4 Prozent bei der Wahl 2017
Die Linkspartei holte bei der vergangenen Bundestagswahl 2017 in Gelsenkirchen 7,4 Prozent der Zweitstimmen, die damalige Direktkandidatin Ingrid Remmers, die im August 2021 verstorben ist, bekam damals 6,7 Prozent der Erststimmen. Sie zog über einen hohen Listenplatz in den Bundestag ein. Ayten Kaplan hatte bislang noch kein politisches Mandat bekleidet. Von 2014 bis 2018 war sie Mitglied im Vorstand der Linken NRW, von 2010 bis 2017 war sie Sprecherin des Kreisverbands Gelsenkirchen. Kaplan aktiv in mehreren Migrantenverbänden und Vereine, etwa im Deutsch-Kurdischen Solidaritätsverein Nav Dem oder im Rechtshilfefonds für Kurdinnen und Kurden in Deutschland AZADÎ.
In Ihrer Bewerbung für die Landesliste haben Sie die Nato als „Aggressionsbündnis“ bezeichnet und behauptet, dass „die USA und die anderen kapitalistischen Industrienationen versuchen alles zu vernichten, was nach Sozialismus aussieht.“ Dann müssten die USA im Falle einer rot-rot-grünen Regierung also auch in Deutschland intervenieren?
Wir alle haben gesehen, wozu der Realsozialismus führen kann – zu nichts Gutem. Natürlich muss man ihn also transformieren. Aber wir müssen doch auch Wege finden, nicht immer in Feindbildern zu denken.
Ihre Formulierungen klingen, als wären die USA für Sie ein Feindbild.
Nein, ich beschreibe die Situation nur, wie sie ist. Nehmen Sie nur mal das Beispiel Ägypten: Staatspräsident Mubarak war der beste Freund der USA – bis das Volk angefangen hat, sich gegen ihn zu wenden. Wer in einem Moment Freund ist, kann im nächsten Moment ein Feind sein, der bekämpft werden muss. Oder schauen Sie nach Afghanistan: Was hat der Westen dort 20 Jahre gemacht? Die hätten in 20 Jahren Entwicklungs-, Friedens und Aufklärungspolitik betreiben können und die Demokratie stärken können. Nur Militärpräsenz bringt nichts. [Lesen Sie auch:Was die Afghanistan-Krise für Gelsenkirchen bedeutet]
Also ist es richtig, dass die westlichen Nationen nun mit den Taliban in den Dialog gehen wollen?
Ich habe mich sehr darüber gewundert. Aber jetzt gibt es keine Alternative mehr. Nur hätte man das viel früher sehen müssen.
Warum finden viele Ihrer Parteimitglieder gegenüber Russland selten so scharfe Worte wie gegenüber den USA?
Ich persönlich finde, dass man mit Russland genauso hart umgehen sollte. Kann sein, dass bestimmte Genossen das anders sehen, aber man sollte gegenüber Russland dieselben Erwartungen haben. Wie dort beispielsweise mit Homosexuellen umgeht, kritisiere ich deutlich.
Vor kurzem wurde das Parteiausschlussverfahren gegenüber ihrem prominenten Parteimitglied Sahra Wagenknecht abgelehnt. Wagenknecht findet, dass sich Ihre Partei zu sehr um identitätspolitische Probleme kümmert, statt sich auf die soziale Ungleichheit in Deutschland zu fokussieren. Beschäftigt sich Ihre Partei tatsächlich zu sehr mit Klientelproblemen?
Jeder Mensch, jede Gruppe hat ihre oder seine eigenen Bedürfnisse und Wahrnehmung. Das muss man anerkennen und nicht ignorieren. Frau Wagenknecht hat darauf bezogen ihre eigenen Vorstellungen – ich habe meine. [Lesen Sie auch: Linke: Wagenknecht plant Wahlkampfauftritt in Gelsenkirchen]