Gelsenkirchen. Stadtforscher Frank Eckardt hat als Gast bei den Grünen schonungslos Probleme der Gelsenkirchener City analysiert - und Lösungen aufgezeigt.
Zu viel Neubau, zu wenig Klima-Anpassung und fehlende Angebote für die Integration von migrantischen Jugendlichen: Frank Eckardt, gebürtiger Gelsenkirchener und Professor für Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar, hat bei einer Diskussionsrunde der Grünen zur Zukunft der Innenstadt deutlich gemacht, welche Herausforderungen seiner Ansicht nach bei der zukünftigen City-Planung dringend angegangen werden müssen.
„Gerade eine Stadt wie Gelsenkirchen ist nicht auf den Klimawandel vorbereitet“, sagte Eckardt. „Wenn wir uns vorstellen, wir hätten hier eine Hitzewelle wie zuletzt in Kanada mit bis zu 50 Grad, dann können wir hier die Toten reihenweise aus den Dachgeschosswohnungen und unbelüfteten Wohnungen abholen.“
Warum Hitze und Regen für die Altstadt ein großes Problem werden könnten
Der Professor bemängelt, dass sich in Deutschland „niemand mit diesen apokalyptischen Szenarien“ auseinandersetzt, obwohl diese in der Zukunft durchaus realistisch seien. In Frankreich, wo bei einer Hitzewelle 2003 Tausende Menschen gestorben waren, habe man daraufhin Hitze-Notfallpläne aufgestellt.
In Städten wie Gelsenkirchen hoffe man dagegen untätig darauf, dass derartige Katastrophen nicht eintreten. „Man denkt nur: Das alles kommt schon nicht zu uns. Solange wir das tun, tragen wir keine Sorge für die Bevölkerung der Stadt.“
Neben der Hitze seien es Starkregenereignisse, die gerade für die Altstadt ein großes Problem werden könnten. Bis zu 200 Liter pro Quadratmeter sind in einigen Regionen Deutschlands während der Flutkatastrophe niedergegangen. „Der Heinrich-König-Platz wäre in solchen Fällen eine Falle, weil er schnell vollaufen wird.“ Natürliche Versickerungsmöglichkeiten gebe es auf dem voll versiegelten Platz keine, die Abwasserkanäle seien von drastischen Regenmengen schnell überfordert und könne man unmöglich umbauen.
Mehr Angebote für südosteuropäische Jugendliche schaffen
Mehr entsiegelte, grüne Flächen und Abkoppelungen vom Kanalsystem in der Innenstadt könnten die Effekte abfedern, glaubt der Stadtforscher. Diese wiederum könnten auch für mehr Aufenthaltsqualität sorgen. Um diese zu sichern, müsse allerdings dringend die soziale Integration in Gelsenkirchen angegangen werden. Es gebe viel zu wenig Streetworker, die Rumänisch sprechen, kein Treffpunkt für junge Menschen aus den südosteuropäischen Ländern in der Innenstadt.
Verkehrsberuhigte Straßen
An der Innenstadt-Diskussion hat sich auch Grünen-Politikerin Anna Di Bari, stellvertretende Bezirksbürgermeisterin Bochum-Mitte, beteiligt, um über Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung in Bochum zu berichten. Dort soll ein Teil der vielbefahrenen Hans-Böckler-Straße in beide Fahrtrichtungen für den Individualverkehr gesperrt werden. Die Durchfahrt ist dann lediglich für den ÖPNV und Radverkehr, für Lieferverkehre in eingeschränkten Lieferzeiten und zu privaten Stellplätzen gestattet. Für derartige Projekte gebe es es „viel Gegenwind“, den man aber aushalten müsse, so Di Bari. „Weil wir glauben, dass der langfristige Benefit sehr groß ist.“
„Wir haben nur kommerzielle Angebote“, kritisiert Eckardt. „Die Innenstadt ist deswegen immer voll mit Jugendlichen, meist aus südosteuropäischen Familien, die sich langweilen und in der Folge logischerweise auf die blödesten Ideen kommen.“ Solange man dieses soziale Problem nicht in den Griff bekomme, werde man keine Aufenthaltsqualität in der Innenstadt sichern können. „Dann sagen die Leute: Ich gehe nicht mehr in die Innenstadt, da werde ich doch angepöbelt.“
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Zudem sieht Frank Eckardt Probleme bei der Wohnungsbaupolitik. Obwohl es so viel bebauten Wohnraum wie noch nie gebe, würden in vielen deutschen Städten weiterhin mehr und mehr Flächen für Häuser freigegeben - auch in Gelsenkirchen. Hier geht bei Neubauprojekten zwar vor allem darum, Eigentum für Familien zu schaffen. Eckardt ist dennoch der Überzeugung, dass das „unkontrollierte Bauen“ weder mit Blick auf die ökologischen noch die sozialen Probleme hilfreich sei. „Wir brauchen eine Stadtplanung, die die Stadt nicht als Baby sieht, das weiter wachsen muss, sondern die mit dem Bestand arbeitet.“ Der Stadtforscher und Sozialwissenschaftler spricht in diesem Zusammenhang von einer „Post-Wachstumsstadt“.
Grüne: Eine Milliarde Euro für die Rettung der Innenstädte
Mit Blick auf Eckardts Schilderungen forderte Grünen-Bundestagskandidatin Irene Mihalic„grundlegende Risikoanalysen, um uns besser auf die Klimafolgen einzustellen“. Um die Innenstädte im Anschluss an die Analysen anzupassen und gleichzeitig die Folgen der Corona-Lockdowns für die Kaufleute abzumildern, müsste sich der Bund jedoch dringend finanziell mehr engagieren. „Es braucht eine Milliarde Euro für die Rettung unserer Innenstädte“, forderte die Gelsenkirchenerin, die sich dafür ein eigenes Investitionsprogramm wünscht - zusätzlich zu einer Entschuldung und einer grundlegend besseren finanziellen Ausstattung der Kommunen. Ebenso sprach sich Mihalic für einen besseren Mietschutz von kleinen Gewerbetreibenden aus, damit diese nicht noch mehr aus den Zentren verdrängt werden.
Auch Citymanagerin Angela Bartelt beteiligte sich an der Diskussionsrunde - mit dem Wunsch nach mehr Individualität in der Gelsenkirchener Altstadt. Es gehe heute weniger darum, Filialisten in die Innenstadt zu locken, sondern darum, besondere Läden, auch vorübergehende Pop-up-Stores nach Gelsenkirchen zu bringen, „die sich ausprobieren können und den Leerstand mit kreativen Ideen beleben.“
Eine Idee, die auch bei Stadtforscher Frank Eckardt, Anklang fand, der trotz seiner schonungslosen Analyse der gegenwärtigen City auch lobend erwähnte, welche Aktionen – von Kino bis Tangoabend und Biergarten bis mobile Jugendarbeit – derzeit auf dem Heinrich-König-Platz stattfinden. „Gelsenkirchen hat viele Menschen, die auf nichtkommerzielle Angebote warten.“ Mit ihnen zusammen müsse die City noch viel mehr belebt werden: „An einem Abend Yoga-Matten auf dem Platz, am nächsten eine Rave-Party.“