Gelsenkirchen. Rumänen bis Polen: In Gelsenkirchen leben viele nichtdeutsche EU-Bürger, die ihre Freizügigkeit verlieren können. Was bei den Zahlen auffällt.

„Die Freizügigkeit von Unionsbürgerinnen und -bürgern ist ein hohes Gut. Der Gesetzgeber wünscht, diese so wenig wie möglich einzuschränken. Insofern ist das Freizügigkeitsgesetz so konzipiert, dass es zwar Einschränkungsmöglichkeiten bietet, diese jedoch mit Hürden versehen sind.“ Mit diesen Worten beginnt die Antwort der Stadt auf eine Anfrage der AfD, die wissen wollte, in wie vielen Fällen nichtdeutschen EU-Bürgern zuletzt das Leben in Gelsenkirchen verwehrt wurde.

Die Zahl, die die Verwaltung der rechten Partei nun nach etwa viermonatiger Bearbeitungszeit präsentiert, wertet die AfD als „Skandal“.

Deutlich weniger EU-Bürger mussten Gelsenkirchen verlassen

Tatsächlich ist der Wert im Vergleich zu den Vorjahren sehr auffällig (siehe Tabelle). Bei 29 EU-Bürgern (27 Rumänen, ein Kroate, ein Bulgare) wurde im vergangenen Jahr der Verlust des Freizügigkeitsrechts festgestellt. 2019 wurden noch insgesamt 540 EU-Bürger aufgefordert, Deutschland zu verlassen, weil sie ihre Freizügigkeitsrechte verwirkt hatten.

„Der deutliche Rückgang der Fallzahl hängt unmittelbar mit der personellen Situation in diesem Arbeitsbereich zusammen“, erklärt Stadtsprecher Martin Schulmann. So hätten Ende 2019 zwei in diesem Bereich tätige Dienstkräfte das Referat verlassen. Eine Nachbesetzung habe erst zum 1. September 2020 erreicht werden können. „Inzwischen sind die neuen Kräfte eingearbeitet und konnten im laufenden Jahr bereits 200 entsprechende Verfahren einleiten“, berichtet Schulmann.

AfD wettert: „Vom deutschen Steuerzahler finanziert“

Die AfD wittert dennoch ein großes Behördenversagen und spricht von einem „fatalem Bild“, das nach außen gezeichnet werde. Als Beispiel dafür führt Co-Fraktionsvorsitzende Enxhi Seli-Zacharias die Daten zu Sozialleistungsbeziehern ins Feld, die „vom deutschen Steuerzahler finanziert“ würden, obwohl sie im arbeitsfähigsten Alter sind.

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„Unter den Rumänen und Bulgaren ist die größte Gruppe der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in der Gesamtbetrachtung der 15 bis 35-Jährigen. Gleichzeitig verweilen diese Personen im Regelleistungsbezug vier Jahre oder länger, wie die Daten unserer Anfrage zeigen. Das alles in einer finanzschwachen Kommune. Ein Skandal“, so Seli-Zacharias und ergänzt: „Diese importierte Jugendarbeitslosigkeit mündet zwangsläufig in Kriminalität und Gewalt, wie wir es aus anderen Ländern kennen.“

„Die Probleme im Zusammenhang mit der Zuwanderung von EU-Bürgern sind ja nicht erst seit gestern bekannt. Insofern förderte diese Anfrage nichts Neues zu Tage“, sagt Manfred Peters, Sprecher der SPD-Fraktion im Ausschuss für Ordnung mit Verweis auf die AfD. „Was wir brauchen, sind realistische Lösungen. Der Entzug der Freizügigkeit ist kaum möglich, weil er mit hohen, rechtlichen Hürden verbunden ist,“ so Peters weiter. „Das können wir nicht ändern und unausgesprochen den Eindruck zu erwecken, wir könnten das, ist so unseriös und gefährlich wie die AfD selbst.

Die SPD verweist ihrerseits auf darauf, dass die Stadt unter anderem mit dem Abriss von Problemimmobilien bereits Schritte zur Lösung der Probleme mit der Armutsmigration eingeleitet habe.

CDU: „Gelsenkirchen ist spät dran, aber auf dem richtigen Weg“

Deutliche „Verbesserungen“ sieht CDU-Chef Sascha Kurth bei dem Thema. „Die Probleme rund um die Zuwanderung EU-Ost beschäftigen uns ja seit Jahren in Gelsenkirchen intensiv. Nachdem Gelsenkirchen ehrlicherweise auch spät dran war, effektive Maßnahmen zur Verhinderung von Sozialmissbrauch zu etablieren, sind wir mittlerweile deutlich besser aufgestellt - mit intensiven Einzelprüfungen, aber auch beispielsweise mit den Interventionsteams EU-Ost, um Menschen, die hier ihre Freizügigkeit zum Zwecke des Transferleistungsbezuges ausnutzen wollen, das Leben schwerzumachen“, zieht Kurth Fazit. [Lesen Sie auch:Armutsmigration: Das ist Gelsenkirchens neue Strategie]

Gleichwohl sieht der Unionspolitiker – wie auch die Stadtverwaltung – weiterhin viel Arbeit bei der Bekämpfung der Rahmenbedingungen. „Die Botschaft in Gelsenkirchen ist doch klar: Zuzug in unsere Stadt mit dem Ziel des Transferleistungsbezugs wollen wir nicht. Bei der Umsetzung sind wir aber an den Rechtsrahmen von Bund und EU gebunden - und der macht es für uns als Kommune sehr arbeitsintensiv und legt uns in Teilen auch Steine in den Weg, wenn es darum geht, gegen Missbrauch vorzugehen.“

CDU und Grüne kritisieren AfD für „Populismus“ und „zu pauschale Wertung“

Der AfD wirft Kurth hingegen vor, dass es ihr nur um Populismus gehe.

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Ähnlich kritisch gehen die Grünen mit der AfD um. Für Menschen das EU-Freizügigkeitsrecht einzuschränken habe noch nichts mit der Bekämpfung von Armutsmigration zu tun. „Die AfD tut so, als wenn das Instrument der Verlustfeststellungen ein geeignetes Mittel wäre, um Armutszuwanderung zu begrenzen“, sagt Co-Fraktionschefin Adrianna Gorczyk. „Das ist aber nicht der Fall: Es ist nicht nur an strenge Voraussetzungen geknüpft, sondern auch in der Wirksamkeit fragwürdig“, so Co-Fraktionschefin Adriana Gorczyk.

„Keine Faktengrundlage für Verknüpfung on Zuwanderung und Kriminalität“

„In der Tat ist es für den eh klammen Gelsenkirchener Haushalt problematisch, dass EU-Zuwanderung hier oft mit Armut verknüpft ist, denn Armut zieht Armut an. Wir begrüßen daher die Entscheidung von Bund und Land im letzten Herbst, sich stärker an den Kosten der Unterkunft für SGB II-Empfänger zu beteiligen und so Kommunen wie Gelsenkirchen zu entlasten“, unterstreicht die Grünenpolitikerin die Position ihrer Partei - und betont zudem: „Für die Verknüpfung von Zuwanderung und Kriminalität, wie die AfD sie herstellt, gibt es keine Faktengrundlage. Wir lehnen diese populistische Vorstellung daher ab.“

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Gorczyk sieht vielmehr „eine Notwendigkeit für niederschwellige soziale und Bildungsprogramme, von denen es in Gelsenkirchen auch schon einige gibt, um die Armutsursachen wie mangelnde Bildung bekämpfen.“ Entscheidend sei letztlich, dass auf EU-Ebene die Bedingungen für ein gutes Leben in Bulgarien und Rumänien geschaffen würden.

Auch die FDP wirft der AfD „Populismus“

Christoph Klug, ordnungspolitischer Sprecher der FDP-Fraktion erklärt mit Blick auf die Verwaltungsvorlage: „Das Gegenteil der AfD-Behauptungen ist eigentlich richtig.“ Denn für die Jahre 2016 bis 2019 sei eine enorme Steigerung der Fälle zu erkennen, in denen der Nichtbestand oder der Verlust der EU-Freizügigkeit erkannt bzw. eingeleitet wurde. Der Einbruch in 2020 sei laut FDP der Corona-Pandemie und der allgemeinen Reiseeinschränkungen in Europa zuzuschreiben.

Das zeige, dass der eingeschlagene Weg der richtige sei. Klug verhehlt aber auch nicht, dass „die Probleme mit Zuwanderern aus südost-europäischen Bereichen eine Mammutaufgabe“ seien. „Wir müssen weiter konsequent unsere Schrottimmobilien abreißen, müssen zielstrebig und konsequent gegen Gesetzesverstöße vorgehen und Bund und Land fordern.“ [Lesen Sie auch: Gelsenkirchen: Pilotprojekt gegen Probleme mit Zuwanderung]

Auch in Duisburg wurden weniger EU-Bürger ausgewiesen

Mit deutlich rückläufigen Freizügigkeitsverlustmeldungen steht Gelsenkirchen nicht alleine da. Auch in Duisburg wurden 2020 deutlich weniger EU-Bürger aufgefordert, das Land zu verlassen als zuvor (2019: 324; 2020: 194). Stadtsprecher Jörn Esser ahnt, dass die „Gründe für diesen Rückgang zum einen die vergleichsweise geringen Zuwanderungszahlen sein könnten, zum anderen aber auch der Arbeitsplatzverlust der meist geringfügig Beschäftigten aufgrund der Coronapandemie.“ In diesen Fällen sei eine neue Frist einzuräumen.