Berlin. Angriffe gegen Synagogen, brennende Israel-Fahnen und antisemitischer Hass – angesichts der Lage in Nahost eskalieren Demos hierzulande.
Erst fängt einer an, dann steigen die anderen mit ein. „Scheiß Juden! Scheiß Juden!“, skandieren sie. Vor allem junge Männer, aber auch einzelne junge Frauen. Es sind gut 50 Teilnehmer. Einige tragen eine palästinensische Flagge, andere eine Fahne der Türkei.
Es ist Mittwochabend, Gelsenkirchen Innenstadt, in der Nähe einer Synagoge. Die Polizei hat nach eigenen Angaben mehrere Strafanzeigen wegen Volksverhetzung, Landfriedensbruch, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte und Beleidigung von Einsatzkräften gefertigt.
Es ist nicht der einzige antisemitische Vorfall, den Deutschland in den vergangenen Tagen erlebt hat. Mit der Eskalation im Nahen Osten steigt auch hier die Anspannung. In Bonn verbrennen drei Männer zwischen 20 und 24 Jahren eine israelische Flagge.
Lesen Sie alles zur Eskalation des Nahostkonfliktes in unserem Newsblog.
Auch in Münster brennt eine Israel-Flagge
Mehrere Israel-Fahnen vor öffentlichen Gebäuden zum Tag der deutsch-israelischen Beziehungen am 12. Mai werden von Unbekannten beschädigt oder entfernt, so in Solingen, in Würzburg, auch vor dem Konrad-Adenauer-Haus in Berlin.
In Mannheim schmeißen Unbekannte die Scheibe einer Synagoge ein. Auch in Münster brennt eine Israel-Fahne, als sich eine Gruppe von Männern vor der dortigen Synagoge versammelt. Zeugen rufen die Polizei. Gegen 13 Personen mit insgesamt acht unterschiedlichen Nationalitäten ermittelt dort jetzt der Staatsschutz. Zehn von ihnen sind der Polizei nach Angaben der Behörde bereits bekannt, allerdings nicht durch politisch motivierte Straftaten.
Die Demonstrationen haben starken Zulauf
Laut Innenexperten und Sicherheitsbehörden gehen die Demonstrationen durchaus von Sympathisanten der Hamas und Anhängern der terroristischen Gruppe „Volksfront zur Befreiung Palästinas“, kurz: PFLP, aus. Beide Gruppen greifen in ihrer Propaganda das Existenzrecht Israels an. Lesen Sie hier: Heiko Maas: Hamas verantwortlich für Eskalation im Nahen Osten
Die Gruppierungen treten nicht offen als Anmelder von Kundgebungen auf, doch würden sich in einigen Fällen Verbindungen der Organisatoren in die Szene zeigen. Die schiitische Terrormiliz Hisbollah hat in Deutschland seit vergangenem Jahr ein „Betätigungsverbot“ – und doch sehen Sicherheitsbehörden die Gefahr, dass auch ihre Mitglieder „privat“ zu den Demonstrationen kommen.
Derzeit analysieren die Sicherheitsbehörden die Videos und Fotoaufnahmen der aktuellen Demonstrationen noch. In der kommenden Woche befassen sich Sicherheitsbehörden und Bundesregierung in der wöchentlichen Lagebesprechung mit den antisemitischen Vorfällen.
Feindschaft zu Israel verbindet sehr verschiedene Milieus
Vieles hierzulande, sagen Experten, hängt davon ab, wie es im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern weitergeht. Was Polizei und Verfassungsschutz vor allem beunruhigt, ist der starke Zulauf, den solche Demonstrationen derzeit angesichts der Lage in Nahost haben. Teilweise kommen vielfach so viele Teilnehmer wie angemeldet – meist junge Menschen und Jugendliche, die nur schwer von den Veranstaltern unter Kontrolle zu halten sind. Auch interessant: Raketenabwehrsystem Israel: So funktioniert "Iron Dome"
Nach der Hetz-Demo in Gelsenkirchen sagt Innenminister Herbert Reul (CDU), dass die Täter „nicht nur palästinensische Gruppen“ seien. Es gebe insgesamt Menschen aus dem arabischen Raum, aus Syrien etwa und im Fall eines Verdächtigen aus Gelsenkirchen handelt es sich um einen Deutsch-Libanesen. „Da misch sich unheimlich viel zusammen“, sagt Reul.
Auch bei der Amadeu-Antonio-Stiftung ist die Rede von einer unübersichtlichen Lage. „Die Feindschaft zu Israel funktioniert als eine Brücke, die sehr verschiedenen Milieus verbindet“, sagt Experte Ismail Küpeli, „von türkischen Nationalisten über das palästina-solidarische Milieu bis zu deutschen Rechten.“ So seien bei der Demonstration in Gelsenkirchen zum Beispiel türkische Nationalisten wie die Grauen Wölfe sehr präsent gewesen. Auch zum esoterischen, pseudo-alternativen Teil der Querdenker gebe es Anknüpfungspunkte.
Justizministerin Lambrecht verurteilt antisemitische Vorfälle
Justizministerin Christine Lambrecht verurteilt die Vorfälle scharf. „Die Versammlungsfreiheit gibt allen das Recht auf friedliche Demonstrationen. Wenn aber Synagogen angegriffen und Israel-Flaggen verbrannt werden, hat das mit friedlichem Protest nichts mehr zu tun“, sagte die SPD-Politikerin dieser Redaktion. Dem müsse man mit aller Konsequenz entgegentreten. „Dass das Existenzrecht Israels angegriffen wird, dürfen wir in Deutschland niemals dulden.“
Israels Botschafter Jeremy Issacharoff hat sich ermutigt über die Solidaritätsbekundungen nach den antisemitischen Angriffen in Deutschland gezeigt. „Ich glaube, dass der größere Teil der deutschen Bevölkerung auch versteht, dass der gegenwärtige Konflikt von der Terrororganisation Hamas begonnen wurde und nichts mit ihren jüdischen Mitbürgern in Deutschland zu tun hat“, sagte Issacharoff unserer Redaktion.
Das Anschwellen der Aggressionen spüren Juden und Jüdinnen in Deutschland auch online. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) sammelt und dokumentiert antisemitische Vorfälle nicht nur offline, sondern auch im Netz. Auch dort sahen sich nach Angaben von RIAS den vergangenen Tagen immer wieder jüdische Menschen antisemitischen Anfeindungen mit Bezug auf den Konflikt ausgesetzt. Auf einen Instagram-Beitrag einer jüdischen Frau über einen Brettspielabend mit ihrer Familie habe ein Nutzer geantwortet: „Palästina für immer ihr israelischen bastarde ich hoffe gott bestrafte euch hürensohne“ (Fehler im Original).
Zahlreiche Demonstrationen von Palästinensern am Wochenende
In den sozialen Netzwerken, beobachtet Nikolas Lelle für die Amadeu-Antonio-Stiftung, gebe es im Moment auch „verstärkt Versuche, unpolitische Leute zu politisieren mit Posts, die sich mit Palästina solidarisch erklären.“ Diese hätten wesentlich mehr Resonanz als Beiträge, die sich mit Israel solidarisieren. Am Donnerstag sei auf Twitter zeitweise ein Hashtag in den Trends gewesen, der die Gründung Israels mit der Corona-Pandemie gleichsetzt.
Je länger der Konflikt andauert, umso größer und zahlreicher werden auch die antisemitischen Aktionen in Deutschland werden, fürchten Experten und Expertinnen. Am Sonnabend ist der Tag der „Nakba“, an dem Palästinenser und Palästinenserinnen traditionell der Flucht von Hunderttausenden aus dem früheren britischen Mandatsgebiet gedenken.
Am Wochenende sind deshalb neue Demonstrationen im ganzen Bundesgebiet geplant. Die Sicherheitsbehörden fürchten, dass es nicht nur beim friedlichen Gedenken bleibt.