Gelsenkirchen. Die Gelsenkirchener Anwältin Regina Sossin vertritt Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt. Was sie in ihrem Beruf schon erlebt hat.

  • Die Gelsenkirchener Anwältin Regina Sossin vertritt als Nebenklägerin Opfer von häuslicher und sexueller Gewalt vor Gericht. Viele ihrer Mandatinnen sind sehr jung.
  • Sie rät jedem Gewaltopfer, Anzeige gegen den Täter zu erstatten, weiß aber auch: Der Weg bis zu einer Verurteilung ist mitunter lang.
  • Die Erfahrung der Opferanwältin zeigt: Meist kommen Gewalttäter aus dem persönlichen Umfeld der Opfer. Das können Familienangehörige, der eigene Partner oder der „nette Nachbar“ sein.

Es ist ein Fall, der längere Zeit zurückliegt. Die Frau hat ein enges Verhältnis zu ihrer Familie. Regelmäßig betreuen ihre Eltern ihre zwei kleinen Töchter. Irgendwann stellt sich heraus: Der Großvater hat seine Enkelinnen sexuell missbraucht, sie vergewaltigt. Seit Jahren. Nun will die Frau ihren Vater zur Rechenschaft ziehen, die Kinder müssen vor Gericht aussagen. Eine schwere Belastung für die jungen Mädchen. Zur Seite steht der Familie damals die Gelsenkirchener Opferanwältin Regina Sossin.

Sossin ist hauptsächlich im Bereich des Familienrechtes tätig. Gleichzeitig hat sie über die Jahre hinweg viele Opfer häuslicher oder sexueller Gewalt als Nebenklägerin vertreten. Der oben geschilderte Fall ist in seiner Brutalität keinesfalls einzigartig. „Nach 25 Jahren Berufserfahrung schockt mich fast nichts mehr“, sagt die 54-Jährige.

Die meisten Mandanten sind Kinder, Jugendliche oder junge Frauen unter 30

So hat sie beispielsweise eine Zwölfjährige vertreten, die von einem 50-jährigen Mann sexuell missbraucht worden war. Der Mann bezeichnete das Verhältnis zu ihr als Liebesbeziehung. Oder drei zwölf- bis 15-jährige Jungen, die ein 22-Jähriger für sexuelle Handlungen an einen Pädophilen verkauft hatte. Die meisten ihrer Opfer sind Kinder, Jugendliche oder junge Frauen unter 30 Jahren. Aber auch einem homosexuellen jungen Mann, der einem anderen Mann vorwarf, ihn vergewaltigt und mit Aids infiziert zu haben, hat sie schon vor Gericht beigestanden.

Regina Sossin in ihrer Kanzlei in der Gelsenkirchener Altstadt. Neben ihrer Arbeit als Opferanwältin ist die 54-Jährige hauptsächlich im Bereich Familienrecht tätig.
Regina Sossin in ihrer Kanzlei in der Gelsenkirchener Altstadt. Neben ihrer Arbeit als Opferanwältin ist die 54-Jährige hauptsächlich im Bereich Familienrecht tätig. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Als Opferanwältin hat Sossin Akteneinsicht und bereitet ihre Mandanten darauf vor, was in der Verhandlung auf sie zukommen wird. Am Tag der Hauptverhandlung hat sie ein Anwesenheitsrecht, darf Angeklagten, Zeugen und Sachverständigen Fragen stellen und kann dafür sorgen, dass keine Öffentlichkeit im Gerichtssaal zugelassen wird. Und sie leistet emotionalen Beistand. „Ich sitze zum Beispiel immer so, dass meine Mandantin vor den Blicken des Täters abgeschirmt ist“, sagt sie.

Gelsenkirchener Anwältin: „Ich würde jedem Opfer raten, Anzeige zu erstatten“

Sossin weiß genau, wo die Hürden für Opfer liegen, die gegen ihren Peiniger vorgehen wollen. Grundsätzlich sagt sie: „Ich würde jedem Opfer raten, Anzeige zu erstatten.“ Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass von der Anzeige bis zum Strafverfahren möglicherweise ein sehr langer Weg vor den Geschädigten liege. Gerade bei kleinen Kindern, die sexuell missbraucht wurden, könne es in bestimmten Fällen ratsam sein, die Anzeige fallen zu lassen, statt sie immer wieder mit der Tat zu konfrontieren.

Auch interessant

„Letztendlich kommt es auf die Psyche des Opfers an“, sagt Sossin. „Menschen halten sehr unterschiedlich viel aus, bevor sie zusammenbrechen.“ Ein wichtiger Faktor sei hier der Rückhalt des sozialen Umfelds. „Wenn eine Frau sich zum Beispiel direkt nach der Tat ihrer Mutter oder Freundin offenbart, ist schon viel gewonnen. Denn die meisten von ihnen schämen sich.“

Vor Gericht steht es Aussage gegen Aussage

Nicht jedes Opfer sei aber überhaupt in der Lage, vor Gericht auszusagen. In all den Jahren hat Sossin dramatische Szenen erlebt. So wie im Fall der beiden Mädchen, die von ihrem Großvater missbraucht worden sind. „Er hat damals nicht gestanden und die Kinder so in die Aussage gezwungen“, berichtet Sossin. „Meine junge Mandantin musste die Ereignisse in allen Details schildern. Sie lag weinend auf dem Gerichtsflur in meinen Armen.“

Auch interessant

Denn so schmerzhaft das sein mag: Vor Gericht steht in diesen Fällen Aussage gegen Aussage. „Täter sind durchaus oft geständig. Wenn sie aber schweigen, kommt es auf die Aussage des Opfers an“, erklärt Sossin. Und dann seien es eben die Detailreiche der Schilderung und die emotionale Betroffenheit, die den Ausschlag gäben. Was bedeuten könne, das ein Kind eine anderthalbstündige Befragung über sich ergehen lassen muss. „Dafür steigt aber auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Täter verurteilt wird“, so Sossin.

Erfahrung der Anwältin: Vergewaltigung durch einen Fremden kommt sehr selten vor

Dass ein Opfer dagegen vor Gericht vom Verteidiger des Täters zerrissen werde, wie man es mitunter in Filmen sieht, habe sie noch nicht erlebt. „Der muss ja auch erstmal an mir vorbei“, betont die Anwältin. „Es ist aber auch jedem klar: Wenn man das Opfer niedermacht, macht das keinen guten Eindruck. Denn die Richter wissen ja, wie furchtbar es für die Betroffenen ist, diese sensiblen Befragungen über sich ergehen zu lassen.“

Hier bekommen Opfer Hilfe

Häufig vermittelt der Weiße Ring Mandaten an Opferanwältin Regina Sossin. Bei der Organisation bekommen Opfer von Kriminalität und Gewalt Hilfe.

Das Opfertelefon des Weißen Rings ist bundesweit täglich zwischen 7 und 22 Uhr unter 116 006 zu erreichen.

Lokaler Ansprechpartner für Gelsenkirchen und Bottrop ist Ludger Vohrmann (Kontakt: 0151/55164686, 0209/9477281 oder ludger-vohrmann@web.de).

Vor allem angesichts der Tatsache, dass die Täter meist aus dem persönlichen Umfeld der Opfer stammen. „Die Vergewaltigung durch einen Fremden in der dunklen Unterführung kommt nur sehr selten vor. Ich hatte einen solchen Fall noch nie“, berichtet Sossin. Bei sexuellem Missbrauch von Kindern etwa stammten die Täter meist aus der eigenen Familie oder es sei der „nette Nachbar“, der sich so gern um die Kleinen kümmere.

Viele Frauen mit Gewalterfahrungen zeigen den Täter erst nach Jahren an

Und erwachsene Frauen würden eben nicht selten vom eigenen Partner geschlagen oder vergewaltigt. Bis es hier zur Anzeige komme, können Jahre vergehen. „Frauen sind leider sehr leidensfähig“, so Sossins Erfahrung. „Noch dazu sind viele meiner Mandantinnen finanziell von ihren Männern abhängig und nach Jahren der Gewalt ist ihr Selbstbewusstsein am Boden.“