Gelsenkirchen-Buer. Die Kinderschutzambulanz des Bergmannsheil Gelsenkirchen untersucht bei Verdacht auf Kindesmisshandlung oder Missbrauch. Wie die Ärzte vorgehen.

Ein sechs Monate altes Baby wird ins Krankenhaus gebracht. Es hat mehrere gebrochene Rippen, auch ein Bein ist gebrochen. Die zweifelhafte Version des Vaters: „Der Hund hat den Maxicosi umgeschubst.“

Wenn wie in diesem Fall Geschichte und Verletzungsbild eines Kindes einfach nicht zusammenpassen, dann ist das ein Fall für die ärztliche Kinderschutzambulanz der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen . Sie bietet eine Anlaufstelle für Kinder und Jugendliche, bei denen der Verdacht auf Kindesmisshandlung oder sexuellen Missbrauch besteht.

Zahl der Untersuchungen auf Kindesmisshandlung und sexuellen Missbrauch steigt

Dr. Christiane Schmidt-Blecher, Kinderärztin und Kinderchirurgin, hat die Kinderschutzambulanz aufgebaut. 2008 erst am Marienhospital in Ückendorf und seit 2014 in Buer, ist sie als leitende Ärztin für Diagnose, Beratung und Zusammenarbeit mit den Behörden zuständig. Manchmal ist es das Jugendamt, das Kinder zu ihr schickt, bei denen der Verdacht auf Kindeswohlgefährdung besteht. Manchmal sind es besorgte Lehrer oder Erzieher. In einigen Fällen auch die Eltern und Großeltern. Die Zahl der Untersuchungen steigt seit Jahren.

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2015 wurden etwa 80 Kinder mit Verdacht auf Misshandlung oder sexuellen Missbrauch in der Kinderschutzambulanz vorgestellt. 2019 waren es über 150. Diesen Wert werde man wohl auch 2020 wieder erreichen, schätzt Schmidt-Blecher. Die Tendenz spiegelt sich auch in der polizeilichen Kriminalstatistik wider.

Auch bei der Polizei gingen in den letzten Jahren mehr Anzeigen ein

Von 2015 bis 2019 stieg die Zahl der bei der Gelsenkirchener Polizei angezeigten Kindesmisshandlungen kontinuierlich von fünf auf 26. Die Zahl der Anzeigen wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern sank zwischen 2015 und 2017 zunächst von 49 auf 37, steigt aber seitdem ebenfalls wieder bis auf 47 im Jahr 2019.

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Dass mehr mögliche Fälle von Kindesmissbrauch und sexuellem Missbrauch geprüft werden, führt Schmidt-Blecher allerdings nicht darauf zurück, dass in Gelsenkirchen mehr Gewalt gegen Kinder ausgeübt werde. Vielmehr sei das Bewusstsein für den Kinderschutz gewachsen, sodass aufmerksame Menschen im Umfeld Verdachtsfälle öfter meldeten. Aber: „Das Dunkelfeld ist sehr groß.“

In etwa 40 Prozent der Fälle können Gewalttaten sicher nachgewiesen werden

Chefärztin Dr. Christiane Schmidt-Blecher hat die Gelsenkirchener Kinderschutzambulanz aufgebaut.
Chefärztin Dr. Christiane Schmidt-Blecher hat die Gelsenkirchener Kinderschutzambulanz aufgebaut. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Bei der Untersuchung der Kinder sind vor allem Empathie und Rücksicht gefragt. „Wenn ein Kind einen blauen Fleck hat, stürzen wir uns nicht sofort darauf. Wir wollen keine zusätzliche Angst machen“, erklärt Schmidt-Blecher. Meist beginne man etwa damit, Herz oder Lunge abzuhören – Routineuntersuchungen, die die Kleinen schon vom Kinderarztbesuch kennen. „Und wenn ein Kind sich gar nicht untersuchen lassen möchte, zwingen wir es nicht. Dann kommt es eben ein zweites oder sogar ein drittes Mal wieder.“

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In etwa 40 Prozent der vorgestellten Fälle lasse sich Gewalt zweifelsfrei nachweisen, sagt die Medizinerin. Dann informiere sie das Jugendamt und sehr selten auch die Polizei. Sei die Sicherheit im häuslichen Umfeld nicht gewährleistet, könne das Kind stationär in der Bueraner Kinderklinik aufgenommen werden. Bleibt bei den übrigen 60 Prozent ein Verdacht, werden – in Absprache mit den Eltern – mit dem Jugendamt oder mit Beratungsstellen, zum Beispiel bei der Caritas, weitere Hilfsangebote initiiert.

Hämatome an untypischen Stellen oder Striemen können Anzeichen sein

Grundsätzlich gelte: Kindesmisshandlung ist leichter zu diagnostizieren als sexueller Missbrauch. „Wir wissen ja, wie die meisten Alltagsunfälle entstehen“, erklärt die Ärztin. „Hat ein Krabbler blaue Flecken an den Beinen, ist das nicht ungewöhnlich. Wenn wir bei einem Kind aber Hämatome an untypischen Stellen – zum Beispiel am Gesäß oder Rücken – feststellen, können das Anzeichen für Misshandlung sein."

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Vor einigen Jahren habe sie etwa einen achtjährigen Jungen untersucht, dessen Lehrerin im Sportunterricht Verletzungen aufgefallen seien. Über 20 unterschiedlich alte Striemen zogen sich über den Rücken des Kindes. Der Vater behauptete, sein Sohn habe sich die Wunden beim Spielen im Park zugezogen. „Solche Verletzungen stammen ganz klar nicht vom Spielen. Das wird bei uns dann als sichere Kindesmisshandlung gewertet.“

„Auch wenn der gynäkologische Befund unauffällig ist, muss das nichts heißen“

Anzeichen für Kindesmisshandlung erkennen

Die ärztliche Schutzambulanz des Bergmannsheil Buer weist auf ihrer Internetseite darauf hin, dass Hämatome an untypischen Stellen, Bisswunden, Striemen, Verbrennungen, Knochenbrüche oder Vergiftungen Hinweise für körperliche Misshandlungen sein können.

Sollten solche Merkmale gehäuft auftreten oder seien nicht normal verheilte Verletzungen erkennbar, bedürfe es deiner erhöhten Aufmerksamkeit – insbesondere, wenn die Erziehungsberechtigten die Entstehung der Verletzungen wenig plausibel erklären. Weitere Hinweise können extreme Unterernährung oder ein ungepflegtes Erscheinungsbild des Kindes sein.

Die Sprechstunde der Kinderschutzambulanz in der Kinder- und Jugendklinik des Bergmannsheil Buer findet montags bis freitags von 13.45 bis 15.45 Uhr statt. Termine kann man telefonisch vereinbaren (0209 369-333). Unter der gleichen Rufnummer ist auch ein 24-Stunden-Notfalldienst erreichbar.

Die Zahl der Fälle, in denen ein sexueller Missbrauch zweifelsfrei diagnostiziert werden kann, sei dagegen erschütternd gering. Schmidt-Blechers Erfahrung zeigt, dass die Opfer hier meist schweigen. „Die Täter gehen sehr subtil vor und geben dem Kind das Gefühl, dass es selbst etwas falsch gemacht hat“, weiß die leitende Ärztin. Und: „Auch wenn der gynäkologische Befund unauffällig ist, muss das nichts heißen. Wird ein Kind etwa zum Oralverkehr gezwungen, können wir natürlich keine Verletzungen finden.“ Das sei manchmal schwierig auszuhalten. „Meine wichtigste Botschaft an Kinder ist deshalb: Wenn euch jemand etwas tut, dann sagt es.“

Um Kindern besser helfen zu können, müsse sich aber auch an den Strukturen in der Medizin etwas ändern. „Kinderschutz muss endlich bezahlt werden“, fordert Schmidt-Blecher . „Krankenhausleistungen werden bei den Kassen mithilfe von Schlüsselcodes abgerechnet. Solche Codes gibt es für die Diagnose des Beinbruchs oder der Prellung. Für das ganze Drumherum, zum Beispiel die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, kann ich keinen Betrag X abrechnen“, so Schmidt-Blecher.

Jedem im Umfeld von Kindern rät die Medizinerin indes, wachsam zu sein. Wer glaube, dass ein Kind in Gefahr sei, solle unbedingt die Polizei rufen: „Das hat nichts mit Denunziantentum zu tun.“