Gelsenkirchen-Hassel. Nach traumatischen Gewalterfahrungen litt ein Gelsenkirchener an einer Angststörung und Depressionen. Doch er kämpfte sich zurück ins Leben.

Es fühlt sich an, als würde dir jemand die Pistole an den Kopf halten. Die Beine werden schwach, das Herz beginnt zu rasen. Du bekommst Schweißausbrüche und hast das Gefühl, du müsstest ersticken. Todesangst – ohne erkennbaren Grund. Was sich nach einem Horrortrip anhört, beschreibt Lars Goerke als Symptome der Panikattacken, mit denen er jahrelang zu kämpfen hatte.

Heute kann der 48-Jährige mit ruhiger Stimme über die Angststörung und die Depressionen reden, unter denen er nach Gewalterfahrungen in seiner Jugend und frühen Erwachsenenzeit litt. Mit 13 Jahren lernte Goerke seinen Peiniger kennen. Der Mann, damals über 40, war neu in ein Haus gezogen, in dem einer seiner Klassenkameraden lebte. „Irgendwann gingen wir zu ihm in die Wohnung“, erinnert sich Goerke. „Er gab uns Zigaretten und ließ uns rauchen, das gefiel uns mit 13 natürlich.“

Täter erpresste ihn mit kompromittierenden Fotos

Über seine Gewalterfahrungen kann der Gelsenkirchener heute offen sprechen. Das war aber nicht immer so.
Über seine Gewalterfahrungen kann der Gelsenkirchener heute offen sprechen. Das war aber nicht immer so. © FFs | Thomas Gödde

Relativ schnell habe sich herausgestellt, dass der Mann homosexuell war. Auch Goerke merkte zu dieser Zeit, dass er sich zum gleichen Geschlecht hingezogen fühlte. Zwischen den beiden entwickelte sich eine Beziehung. „Das Machtgefälle zwischen uns – dass er ein erwachsener Mann war und ich ein Junge –, das war mir damals nicht bewusst“, sagt er heute. Relativ schnell sei es mit der Einvernehmlichkeit vorbei gewesen.

„Als er merkte, dass ich mich lieber mit Gleichaltrigen treffen wollte, setzte er mich unter Druck“, erzählt Goerke. „Er hatte kompromittierende Fotos von mir und erpresste mich damit.“ Es folgten jahrelange Übergriffe , Manipulation, Stalking. „Mit 16 Jahren habe ich eine Ausbildung zum Lkw-Schlosser begonnen. Ich war einfach nur glücklich, die Schule zu verlassen, weil meine größte Angst war, dass meine Mitschüler alles herausfinden“, erinnert sich der 48-Jährige. „Da hat er plötzlich in der gleichen Firma im Ersatzteillager angefangen.“

Tod des Peinigers löste Panikattacken aus

Von seinen Qualen erzählte er niemandem: „Ich habe mich einfach geschämt.“ Sich zu wehren, den Täter anzuzeigen, das schien Goerke damals unmöglich. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass der Mann etwas Falsches getan habe. „Das war Gehirnwäsche“, sagt er heute. „Er hat sich immer wieder entschuldigt, mir erklärt, dass er es ja nicht so meint.“ Weil er dem Druck nicht mehr standhalten konnte, brach Goerke schließlich kurz vor dem Abschluss seine Ausbildung ab. Erst als er 24 Jahre alt war und mit seinem damaligen Partner zusammenzog, ließ ihn der Täter in Ruhe.

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„Ab diesem Zeitpunkt war es, als hätte mein Gehirn einen Reset gemacht. Ich verdrängte die Ereignisse komplett“, so der 48-Jährige. Auch deshalb sei der Kontakt zum Täter nie abgebrochen. Der Mann sei sogar regelmäßig zu Besuch gekommen. Bis zu seinem Tod. „Ich war 37, als er starb. Damals habe ich noch Geld für seinen Grabstein gesammelt.“ Doch irgendetwas, so rekonstruierte es Goerke später mit seiner Therapeutin, muss der Tod seines Peinigers ausgelöst haben. „Mir ging es plötzlich sehr schlecht. Ich war extrem verzweifelt und bekam Panikattacken.“

Psychotherapie und Traumatherapie brachten Heilung

Ein Dreivierteljahr habe er die Wohnung kaum verlassen können. „Sogar einkaufen war nur sehr begrenzt möglich.“ Erst, als er sich psychotherapeutische Hilfe suchte, kehrten die Erinnerungen zurück. Und er erfuhr, dass das, was er zunächst für körperliche Beschwerden gehalten hatte, die Symptome einer generalisierten Angststörung und einer Depression sind. Goerke kämpfte gegen seine Dämonen, machte eine Psychotherapie und eine Traumatherapie. Mit Erfolg: Heute gehe es ihm gut, sagt der 48-Jährige, und lächelt dabei.

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Doch er weiß auch, dass da immer etwas bleibt. „Ich bin nicht so spontan wie andere Menschen. Wenn jemand sagt: ‚Kommt, wir gehen irgendwohin‘, dann setzt mich das unter Stress. Meine häusliche Umgebung ist mein sicherer Hafen, den ich am liebsten nicht verlassen möchte“, berichtet er. Als seine Mutter gestorben sei – schon für einen stabilen Menschen eine hochbelastende Erfahrung – habe er zwei Jahre lang nicht mehr arbeiten können.

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„Das Allerwichtigste ist es, nicht die Schuld bei sich selbst zu suchen“

Die Selbsthilfegruppe „Fehlalarm“

2012 hat Lars Goerke die Selbsthilfegruppe „Fehlalarm“ für Menschen mit psychischen Erkrankungen gegründet. Betroffene mit Krankheitsbildern wie Depressionen, Angststörungen, Borderline oder Schizophrenie können sich dort austauschen.

Normalerweise trifft sich die Gruppe jeden dritten Freitag im Monat in der Spindelstraße 9 in Hassel. Aufgrund der Corona-Pandemie entfallen die Treffen aktuell. In Notsituationen gibt es aber die Möglichkeit eines Akutgespräches. Interessierte können sich unter 0209 9720666 oder per Mail an info@fehlalarm.info melden.

Was er anderen Betroffenen raten würde? „Das Allerwichtigste ist es, nicht die Schuld bei sich selbst zu suchen. Denn das habe ich lange getan“, sagt Goerke. Und: „Auch wenn es schwerfällt, sollte man sich jemandem anvertrauen.“ Seinem Peiniger habe er inzwischen vergeben.