Gelsenkirchen. Kinder müssen in Gelsenkirchen fünf Monate auf Gespräche mit der Caritas-Fachstelle warten. Mitarbeiter sorgen sich um Finanzierung.

Lügde, Bergisch Gladbach, Münster: Die vielen bekannt gewordenen Fälle haben das Thema sexueller Missbrauch von Kindern mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Für Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Olivera Kuhl sowie Psychologin Anna Muntanjohl war das freilich gar nicht nötig. Die Mitarbeiterinnen der Caritas-Fachstelle für Opfer von sexueller Gewalt haben täglich mit Betroffenen zu tun und wissen kaum, wie sie die vielen Anfragen abarbeiten sollen. Denn die gemeldeten Verdachtsfälle vor Ort steigen seit Jahren und die Wartelisten sind so lang, dass Familien derzeit auf Gesprächstermine im Februar vertröstet werden müssen.

„Aufgrund der geringen finanziellen Ressourcen können wir eine Nachsorge der erhärteten Fälle nicht ausreichend abdecken“, sagt Christoph Grün, Leiter des Caritas-Fachbereichs Kinder, Jugend und Familie, zu dem die Fachstelle als Teil der Erziehungsberatung gehört. Konkret heißt das, dass eine psychosoziale beziehungseise therapeutische Beratung und Begleitung der Mädchen und Jungen nicht immer so möglich ist, wie sie nötig wäre, um die traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten. Hintergrund: In Diagnostik-Gesprächen loten die Fachfrauen aus, welche Unterstützung die Kinder benötigen.

Gelsenkirchener Caritasverband wird maßgeblich vom Bistum Essen finanziert

Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Olivera Kuhl von der Caritas-Fachstelle für Opfer sexueller Gewalt in Gelsenkirchen betreut betroffene Mädchen und Jungen, aber auch deren Familien. Sie bedauert, dass es so lange Wartelisten für Gesprächstermine in der Fachstelle gibt.
Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin Olivera Kuhl von der Caritas-Fachstelle für Opfer sexueller Gewalt in Gelsenkirchen betreut betroffene Mädchen und Jungen, aber auch deren Familien. Sie bedauert, dass es so lange Wartelisten für Gesprächstermine in der Fachstelle gibt. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Bislang finanziert sich die Fachstelle durch Zuschüsse vom Bistum Essen (290.000 Euro), vom Land (rund 77.000 Euro, die 30 Prozent der Personalkosten abdecken) und von der Stadt (38.000 Euro sowie die Abrechnung über Fachleistungsstunden pro zugewiesenem Einzelfall).

„Das Land hat sich auf die Fahne geschrieben, den Opfern sexueller Gewalt zu helfen. Aber dann muss es auch mehr Geld in die Hand nehmen“, betont Grün. Projektgelder retteten nur über ein, zwei Jahre. Was fehle, seien dauerhaft höhere Zuschüsse, um das Personal um ein bis zwei Stellen aufzustocken.

Psychotherapeutin: Bedarf für ein bis zwei weitere Stellen ist da

„Der Bedarf dafür ist da“, sagt Olivera Kuhl mit Nachdruck. Wegen der langen Wartezeit müssten Kinder womöglich über Monate auf Hilfe von Fachleuten verzichten und unter Umständen alleine klarkommen. Was die Qualifikation betrifft, könnte die 38-Jährige durchaus selbst Therapien anbieten und müsste die betroffenen Mädchen und Jungen nicht an niedergelassene Psychotherapeuten verweisen, die wiederum selbst lange Wartelisten haben. Angesichts der knappen Stellenbesetzung der Fachstelle sei dies aber nicht möglich.

Psychologin Anna Muntanjohl von der Caritas-Fachstelle für Opfer von sexueller Gewalt führt Diagnostik-Gespräche mit Kindern und Jugendlichen, um zu klären, welche Unterstützung sie benötigen.
Psychologin Anna Muntanjohl von der Caritas-Fachstelle für Opfer von sexueller Gewalt führt Diagnostik-Gespräche mit Kindern und Jugendlichen, um zu klären, welche Unterstützung sie benötigen. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

„Zwar ist eine Traumatherapie nicht bei allen missbrauchten Kindern und Jugendlichen nötig. Einigen gelingt es, aufgrund ihrer Persönlichkeit und mit Unterstützung der Familie das Erlebnis so zu verarbeiten. Aber auch sie und deren Bezugspersonen brauchen immer mal wieder ein Gespräch mit uns“, betont auch Anna Muntanjohl. Besonders notwendig sei die Hilfe für Kinder, die von Personen aus dem engeren familiären Umfeld missbraucht wurden - also mindestens 70 Prozent der gemeldeten Fälle.

Gefahr, dass Kinder ohne Hilfe von Fachleuten dastehen

Es gebe auch immer wieder Fälle, wo Eltern damit überfordert seien, die Liste mit Psychotherapeuten abzutelefonieren, um einen Termin zu vereinbaren. „Weil wir keine Zeit haben, ihnen das abzunehmen, steht zu befürchten, dass diese Kinder dann doch ohne Hilfe dastehen“, so Olivera Kuhl.

Darüber hinaus könnten nicht so viele kostenlose Präventionskurse etwa in Schulen durchgeführt werden. „Bislang haben wir Kräfte aus Kitas und Grundschulen als Multiplikatoren geschult, damit sie für das Thema sensibilisiert werden. Nun wollen wir Lehrer der weiterführenden Schulen ansprechen“, so Olivera Kuhl.

Sorge: Bistum könnte Zuschuss wegen sinkender Kirchensteuer-Einnahmen reduzieren

Fachstelle berät und informiert Kinder und Erwachsene

Die Caritas-Fachstelle für Opfer von sexueller Gewalt an der Kirchstraße 51 in Gelsenkirchen unterstützt und berät Kinder und Erwachsene bis zu 27 Jahren, die direkt oder indirekt Opfer von sexueller Gewalt sind. Sie ist auch offen für Menschen, die von solchen sexuellen Übergriffen wissen, sie vermuten sowie solche, die sich informieren wollen.

Das Angebot umfasst zudem Hilfen bei der Verdachtsbewertung (solche Fälle werden der Fachstelle vom Jugendamt zugewiesen), multiprofessionelle Kooperation und Fallbegleitung. Kontakt: 0209 158 06 10.

2017 wurden der Fachstelle 22 Verdachtsfälle gemeldet, nach 27 in 2018 und 35 in 2019 sind es im ersten Halbjahr 2020 insgesamt 22 Kinder und Jugendliche, die womöglich sexuell missbraucht wurden.

Dass sich die Finanzsituation künftig sogar noch verschärfen könnte, darum sorgt sich Fachbereichsleiter Grün. „Angesichts sinkender Kirchensteuer-Einnahmen steht zu befürchten, dass das Bistum Essen in Zukunft weniger Geld an den Caritasverband Gelsenkirchen überweisen wird. Ich wüsste nicht, wie wir das dann kompensieren sollten.“ Bis 2022, so das Bistum auf Anfrage, seien die Zuweisungen an die Caritasverbände gesichert. „Was danach passiert, darüber besteht auch wegen der Entwicklung der Kirchensteuern im Zuge der Corona-Krise noch keine Klarheit“, so Sprecherin Cordula Spangenberg.