Gelsenkirchen. Katholische und evangelische Kirche verlieren weiter Mitglieder in Gelsenkirchen. Wohin führt ihr Weg? Zwei Seelsorger schätzen die Lage ein.

Der Trend setzt sich fort. Ein Ende der Zeit, in denen die Gläubigen den beiden großen Kirche den Rücken kehren, ist nicht in Sicht. Im Gegenteil: Stark gestiegene Kirchenaustritte und deutlich mehr Verstorbene als Getaufte machen sowohl der katholischen als auch der evangelischen Kirche zu schaffen.

Der Trend sei nicht umkehrbar, sagt Heiner Montanus, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid genauso wie Propst und Stadtdechant Markus Pottbäcker. Bei der Analyse nach den Gründen haben beide Geistliche nicht nur ein Augenmerk auf den gesellschaftlichen Wandel. Sie werfen auch einen sehr kritischen Blick auf die Entwicklungen der eigenen Kirche, auf die Fehler, die gemacht worden sind und gemacht werden.

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„Dabei muss ich mir nicht jeden Fehler selbst zuschreiben, aber Kirche muss relevante Botschaften für das Leben neu entwickeln, die die Menschen wieder erreichen“, sagt Montanus. „Wenn ein Großteil der Gesellschaft davon überzeugt ist, dass Kirche ihr Leben nicht mehr betrifft, dann fragen sich die Menschen doch, warum soll ich zahlen?“ sagt der Superintendent.

Montanus: Neue Wege sind auch immer ein Wagnis, aber das müssen wir eingehen

Pfarrer Heiner Montanus ist Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid.
Pfarrer Heiner Montanus ist Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Gelsenkirchen und Wattenscheid. © Cornelia Fischer

Kirche müsse wieder ein Angebot machen, mit dem die Menschen nicht rechnen, Überraschungen bieten, dort hingehen, wo sie sind. Die kirchliche Botschaft müsse aus der Mitte heraus kommen, zum Beispiel aus der Diakonie. Daher müsse man andere Wege gehen. „Vormittags um 10 Uhr die Tore aufzumachen und zu warten, dass die Gläubigen kommen, das funktioniert nicht mehr“, betont Heiner Montanus. Eine Überlegung sei zum Beispiel, einfach mal an Markttagen auf dem Marktplatz Musik zu machen, mit den Leuten ins Gespräch kommen, zuhören. Auch das Instrument Internet müsse mehr eingesetzt werden oder man müsse mehr in die Kitas gehen, es gebe so viele Möglichkeiten.

Die Probleme inhaltlich angehen und authentisch sein

„Aber natürlich sind neue Wege auch immer ein Wagnis, aber wir müssen das Risiko eingehen“, ist Heiner Montanus überzeugt und auch weit entfernt davon, bedrückt zu sein. „Wir haben ja eine wichtige Botschaft, wir müssen sie nur anders zu den Menschen bringen.“

Rückläufig bei Taufen und Hochzeiten

In beiden großen Kirchen hat sich die Entwicklung der schwindenden Mitgliederzahlen weiter fortgesetzt. Die Evangelische Kirche Gelsenkirchen verzeichnet 623 Austritte im Jahr 2019, die Katholische Kirche vor Ort 522.

Im vergangenen Jahr gab es 78.015 Katholiken, bestattet wurden 922 katholische Menschen, getauft wurden dagegen nur 519. Während sich 2018 noch 112 Paare katholisch trauen ließen, waren es ein Jahr später nur noch 77 Paare.

Stadtdechant Markus Pottbäcker leitet die Propsteipfarreien St. Urbanus in Buer und St. Augustinus in der Altstadt.
Stadtdechant Markus Pottbäcker leitet die Propsteipfarreien St. Urbanus in Buer und St. Augustinus in der Altstadt. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Positiv in die Zukunft blickt auch Propst Markus Pottbäcker, trotz der schwierigen Jahrzehnte. Er geht ausgesprochen kritisch mit der katholischen Kirche um, sieht aber auch genauso eine gesellschaftliche Entwicklung. „Der Hang zur Autonomisierung ging schon mit den 68ern los und setzte sich in den 70er und 80er Jahren fort. Immer mehr Menschen sind der Auffassung, dass sie selbst über ihr Leben bestimmen. Sie lehnen eine Institution wie Kirche ab.“

Pottbäcker: Selbstbetrachtung des Jammerns aufgeben

Es sei eine „fundamentale Entwicklung, die kaum zu beeinflussen“ sei. Hinzu komme noch „eine große Mischung von Hilflosigkeit und Ignoranz“ von Seiten der katholischen Kirche, was die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs betreffe, sagt Pottbäcker ausgesprochen kritisch. Da gebe es mittlerweile eine „Erfahrung des Versagens.“ Ein Großteil der Menschen bliebe ja nicht weg, weil Kirchen geschlossen würden. Die Probleme der katholischen Kirche hätten auch nichts zu tun mit dem Zölibat oder der Stellung der Frauen in der Kirche. „Die Entwicklung ist ja bei der Evangelischen Kirche ganz genau so und da gibt es zum Beispiel das Zölibat nicht“, sagt Pottbäcker. Die Katholische Kirche müsse die Probleme inhaltlich angehen und authentisch sein. „Vor allem müssen wir die Selbstbetrachtung des Jammerns aufgeben.“